Eigentlich habe ich meiner Frau, die bei einem literarischen Abend vor der Frankfurter-Buchmesse (heuriges Motto: Fínland.Cool.) in Bonn drei finnische AutorInnen vorstellt, versprochen, die dort von Felix Vörtler in Auswahl vorgetragenen Werke auf Deutsch zu lesen und meinen Senf dazu zu geben.
Nach Markus Nummis aktuellem Buch "Im Anfang ein Garten" wurde ich von einem Hinweis im Klappentext auf eines seiner früheren Werke gebracht. "...sein Roman Bonbontag" sei "ein bewegender Roman mit überraschendem Ende und ein erschütterndes Plädoyer für eine liebevollere Gesellschaft." Ich verzichtete also auf Johanna Sinisalos "Finnisches Feuer" (Auringon ydin - dt. eigentlich: Kern der Sonne) und Leena Lehtolainens neuen Krimi "Wer ohne Schande ist" (Rautokolmio - dt. eigentlich: Eisernes Dreieck) und lieh mir in der Bibliothek des Finno-Ugristik-Instituts der Uni Wien dieses Nummi-Werk aus. Dann wurde es zäh. Wären die letzten 30-40 Seiten des 400-Seiten-Opus nicht derart dynamisch, blieben bloß die vielen Schwächen des Plots und der Darstellung - wahrscheinlich auch der Übersetzung - schmerzhaft in Erinnerung. Nummi schafft es mit dem "überraschenden Ende" (das mich nur in seinem Elan, nicht aber in seiner Handlung überrascht hat) all das zuzudecken, was er vorher vergeigt hat. Die Rede ist von mehreren ProtagonistInnen, die alle in kleineren oder größeren Lebensschwierigkeiten stecken, auch oder vor allem im Hinblick auf ihre Kinder. Eines dieser Kinder wird zur Hauptfigur nicht nur dieses Romans, sondern auch eines Romans, den Schriftsteller Ari gerade auf Basis dieser, seiner Erfahrungen schreibt. Dies zweite Ebene nervt bisweilen. Sie ist oberflächlich und verhindert jede Reflexion. Diese fehlende Reflexion und die daraus resultierende fehlende Weiterenwticklung der handelnden Personen ist für mich die große Schwäche der von Nummi hier produzierten Welt. Treu bleibt der ehemalige Archivar auch seinem Konzept, Aufzeichnungen, Fotos und Zeitungsberichte als Basis seines Schreibens zu verwenden. Er selbst bedankt sich im Nachwort bei all den ihm unbekannten Verfassern. Auch mehrere Motive, die dann im "Am Anfang ein Garten" weiter ausgebaut werden, sind hier schon vorhanden: Da ist zum einen die Welt der Kinder, diesmal im Helsinki der Gegenwart, zum anderen wird mehrmals von einem Bild, das sich der Sozialarbeiterin eingebrannt hat, berichtet und das einen Jungen im Lichtschein eines geöffneten Kühlschrankes zeigt. Außerdem ist von erstarrten Augenblicken die Rede und davon, dass, wenn man die Augen zumacht, ein weit entfernter aber geliebter Mensch immer da ist. Der Alltag der ProtagonistInnen, dem Schriftsteller Ari, der Sozialarbeiterin Katri, der überforderten Mutter und Raumplanungsberaterin Paula und dem Jungen Tomi ist absolut nicht alltäglich. In den knapp 24 Stunden, die im Buch beschrieben sind, jagt ein Extrem das andere und vor allem die Eltern kriegen ihr Fett ab. Hier wird nicht nach Gründen und Motiven für deren Verhalten gesucht, sie werden eindimensional zu TäterInnen gestempelt und deren Kinder zu Opfern. Doch auch in jedem Täter steckt ein Opfer - und diese Perspektive geht mir total ab. Wie man meinen Worten entnehmen kann, bin ich diesmal sehr enttäuscht über Nummis Welt, was wahrscheinlich auf dem besagten Klappentext beruht. Von einem Plädoyer für eine liebevollere Welt vermag ich nichts zu entdecken, eher von einer Verurteilung mangelhafter Eltern. Und das rigorose Abbild der Wirklichkeit, das sich wohl aus den genannten Protokollen und Artikeln speist, nimmt einem jede Hoffnung und Perspektive. Schade, dass ein großes Thema so kleinmütig abgehandelt wurde.
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600 Seiten liegen hinter mir. 600 Seiten voller Geschichten eingebettet in die Geschichte von Chinesisch-Turkestan in der Zeit von 1903 bis 1941. Nummi erzählt, fabuliert, spannt einen Bogen nach dem anderen und lässt uns vielen Menschen begegnen, die das Schicksal immer wieder zusammen und auseinander führt. Im Zentrum seines Buches Kiinalainen puutarha steht ein Foto mit einer Gruppe von Menschen in chini bagh, dem Garten, der dem Buch seinen Namen gegeben hat. Im Nachwort muss Nummi zwar bekennen, dass chini nichts mit China zu tun hat, sondern so etwas wie wertvoll bedeutet, aber das ist nicht entscheidend. In dieses Foto fabuliert er eine Gruppe von Kindern hinein, deren Geschichte(n) er im Lauf des Buches entfaltet. Im Mittelpunkt stehen Kamil und Rahila, die das Leben als Kinder in einer schwedischen Missionsstation zusammengeführt hat. Eine ebenso wichtige Rolle spielt Carl Gustaf Emil Mannerheim, ein berühmter finnischer Militär und Staatsmann, der an entscheidenden Stellen des Buches plötzlich auftaucht und dessen Aufzeichnungen und Fotos - wie eben jenes bereits angesprochene - eine Basis für all das Geschehen bietet.
Dann geht es in mehreren Spannungsbögen durch all die Jahre und Jahrzehnte. Kamil ist mit Nora, der Wahlnichte seiner großen Liebe Rahila, auf der Flucht. In den drei Nächten ihrer Gefangenschaft erzählt er dem 6-jährigen Mädchen die ganze Geschichte und all die Geschichten. Hassan, der Sohn des Diebes, wird für die Protagonisten zum wichtigen Begleiter und letztlich zum Lebensretter, obwohl sich alle immer irgendwie vor ihm fürchten. Baron Mannerheim lebt von seinen Abenteuern, die er in seinen Unterlagen aufzeichnet, und merkt nichts von der großen Liebe, die ihn umfängt. Am Anfang ist er der Freund der Russen, am Ende deren Feind, aber eben deshalb, weil er das zaristische Russland, dem er gedient hat, retten will. Die Schweden kommen und gehen - aber was bleibt ist ihre Version des Christentums, die trotz aller Versuche von dessen Gegnern in so manchem Kinderherz bis zum Erwachsenwerden aufgeht und zu deren Konversion führt. Der deutsche Titel "Am Anfang ein Garten" führt die Lesenden in dieses Motiv der Handlung. Die Schöpfungsgeschichte der Bibel, die von den schwedischen Missonaren verbreitet wird. Daraus resultiert der Kampf der Kulturen, die in Ost-Turkestan vielfältig sind. Wir erleben vor allem den Konflikt zwischen den Muslimen und den Christen, am Ende kommt noch der Hinduismus ins Spiel und auch der gottlose Kommunismus der Bolschewiken. In der Geschichte der Protagonisten zeichnet Nummi aus meiner Sicht einen Weg aus diesem Dilemma, das sich aus Fanatismus speist: die Liebe und mit ihr der Respekt vor der Verschiedenheit des anderen. Die poetische, bildhafte Sprache tut ihr übriges, dass man sich als Lesende/r in Geschichten aus 1001 Nacht wiederzufinden glaubt. Und so entstehen aus dem einen Bild, dem Foto, das Baron Mannerheim gemacht hat, die vielen Bilder des Romans, der einen auch lange nach dem Ende noch weiter beschäftigt, weil er die großen Fragen der Menschheit berührt: die Liebe und die Hoffnung auf eine Rückkehr ins Paradies des Anfangs. Gelernt ist gelernt!
Obwohl es nach wie vor nicht leicht ist. Um gut zu leben, brauche ich von Zeit zu Zeit ein time-out. Dazu muss ich nicht in die Ferne reisen, es geht auch in die Nähe. Ganz in die Nähe. Nach innen. Ich erinnere mich an eine Notiz in Folke Tegetthoffs Reisemärchen, die ähnliches besagt. Ich habe das Buch nicht mehr. Wie ich viele Bücher nicht mehr habe, da ich sie im Laufe meiner vielen Wohnortwechsel als überzähliges Gepäck empfunden habe. Heute tut es mir um das eine oder andere leid. Gerade eben um besagtes. Na gut. So nahm ich mir diesmal eine vierwöchige Auszeit vom Alltag. Keine Nachrichten. Kein Fernsehen. Kaum Internet. Daher kein Facebook. Hie und da ein Blick in die Mails. Hie und da ein Blick auf die Website meiner Bank um meine Onlinebuchungen vorzunehmen und zu schauen, ob das Geld zum Leben reicht. Hie und da Radio, aber nur finnisch per Livestream im Internet. Ich musste nichts verstehen. Ich konnte genießen und ein paar neue Songs kennen lernen, etwa Anssi Kela's Levoton tyttö (Unruhiges Mädchen) oder Pohjolan tuulet (Winde des Nordens) von Kuningasidea (Königsidee) und auch My silver lining von First Aid Kit, ebenso Kolman Nainen's "Me ollaan ne" (Wir sind die). Dafür viel Zeit mit meiner Frau. Mit den Jungs. In der Natur. Im Wald. Am Wasser. Am Fahrrad. Und viel Zeit für Bücher. Bernhard's Frost war nicht dabei. Auch nicht Gantenbein von Frisch. Die durften auch in diesen Wochen angelesen liegenbleiben. Dafür: Erich Kästner's Konferenz der Tiere, einige andere Schriften und Reden, die in diesem Buch veröffentlicht sind; Agatha Christie's Halloweenparty, leider nur auf Deutsch; Brecht's Lai-Tu, biografische Notizen seiner Langzeit-Freundin Ruth-Berlau; Mark Twain's Prinz und Bettelknabe; Martin Walser's Jagd; und schließlich das von meiner Frau neu übersetzte Werk des einzigen finnischen Literaturnobelpreisträgers Franz Eemil Sillanpää "Frommes Elend". Es waren traum-volle (vor allem von Begegnungen geprägte) und ereignisreiche Stunden, die ich erleben durfte. Und es fiel nicht leicht in den Alltag zurück zu kehren, in die körperlose Welt der Intelligenz und des World-Wide-Web. Aber: Ich bin wieder da und werde auch die Zeit bis zum nächsten Time-out meistern. Leben ist eben mehr als nur das eine. Es ist immer auch das andere und im Idealfall in stetigem, harmonischen Wechsel. Von letzterem bin ich noch weit entfernt. Die Extreme dominieren ... |
Hinweis:
Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Seither habe ich sie auf dieser Seite in meine Tagebucheinträge integriert.
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Juli 2019
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