Vor einigen Jahren sprach mich eine Bekannte darauf an, ob ich die Fähigkeit der Bilokation beherrschte. Ich erinnere mich nicht mehr genau daran, worauf sie diese scherzhaft gemeinte Annahme begründete. Heute aber kam sie mir wieder in den Sinn, weil ich mich seit Wochen parallel in den verschiedensten Bereichen meines Seins bewege – ohne aber tatsächlich körperlich gleichzeitig sowohl da als auch dort zu sein.
Auslöser dieses Gedanken war folgendes: Während zwei meiner Jungs im Wohnzimmer auf meinem E-Board die erste Hälfte des Fußball-WM-Qualifikationspiels Serbien gegen Österreich verfolgten (wegendessen übrigens am Nachmittag noch am Jausentisch eine kurze Geschichtsstunde für die Jugend unserer Familie über die österreichisch-ungarische Monarchie, das Attentat in Sarajevo und den „Jugoslawienkrieg“ vor 20 Jahren stattfand), saß ich mit meiner Frau auf der Loggia um am Laptop die aktuelle Tatortfolge aus Dortmund zu sehen. Obwohl ich mich bewusst für den Fernsehabend mit meiner Frau entschieden hatte, war ich doch gleichzeitig mit oder bei unseren beiden Fußballfans. Das ganze verursachte eine komische Unruhe in mir, ich fühlte mich in einem seltsamen Stadium zwischen da und dort. Auch den heutigen Tag über war ich schon öfter in diesem Zustand: ich las Wolfgrubers Verlauf eines Sommers, den ich vor kurzem im Bücherschmaus antiquarisch erworben hatte, kam – während ich den heftigen Text setzen ließ – auf die Idee ein paar kleinere (Reparatur-) Arbeiten in der Wohnung zu machen, setzte mich zwischen diesen Arbeiten an den PC um die News auf orf.at zu lesen und stieß dabei unter „Science“ auf einen Beitrag über Altnazis im deutschen Justizministerium, den ich sogleich auf Facebook mit den Worten: „Eh klar - und in Österreich schaut's genauso aus!“ postete, fiel dann sogleich unter „Kultur“ über einen Gastbeitrag des Germanisten Rüdiger Campe mit dem Titel „Wie Institutionen den Bildungsroman ‚umgedreht’ haben“, was mich dazu führte in unserem Bücherregal Robert Walsers „Jakob von Gunten“, der dort dank meiner Frau steht und den ich noch nicht gelesen habe, herauszuholen und auf Wolfgruber zu legen. Die Gedanken, die mich in dieser Zeit bewegten war jene Spannung zwischen Bildung und Institution Schule, die mich ja seit mehr als einem Jahr so richtig umtreiben und die ein Teil meiner täglichen Aktivitäten geworden sind. Auch beeindruckte mich der Text am Buchrücken, in dem Martin Walser (der ja mit Robert nicht verwandt ist) schreibt: „Jakob von Gunten ist der Entwicklungsroman einer verhinderten Entwicklung. Das, was Jakob für das Leben ausrüsten soll, entzieht im das Leben. Das Prinzip Hoffnungslosigkeit ist das Prinzip dieses Erziehungsromans … Hier stimmt zum erstenmal einer der Gegenwart zu, wie sie ist: und wir erkennen so scharf wie noch nie, wie furchtbar sie ist.“ Und grade eben stolpere ich bei meiner Recherche über das Verhältnis von Martin und Robert Walser auf einen SPIEGEL-Artikel aus 2007 in dem Martin Roberts Buch als das Buch seines Lebens vorstellt. Vor kurzem habe ich nach knapp 2 Jahrzehnten nochmals Peter Hoegs Roman „Der Plan von der Abschaffung des Dunkels“ gelesen, fasziniert, erschreckt und mit der Erkenntnis zurück gelassen, dass gut gemeint in der Regel in eine furchtbare Katastrophe führt, weil die Praxis die dahinter liegende Theorie pervertiert, vor allem in Erziehungsfragen, vor allem in der Schule … aber eben nicht nur dort. Auch im Tatort konnte ich einem solchen Phänomen folgen: die dort dargestellte Dortmunder Polizeiarbeit hat sich schon längst auf das gleiche Niveau begeben wie die Taten jener, die sie zu bekämpfen versucht. Das Team um den von Jörg Hartmann gespielten Kommissar Faber bekämpft nicht nur die Verbrecher mit menschenverachtenden Mitteln sondern sich mittlerweile auch noch gegenseitig. Für mich stellt sich die Frage, wer derjenige oder diejenige sein wird, der oder die den ersten Mord an ihrem Kollegen, an ihrer Kollegin begeht; wobei die Männer hier eindeutig zu den Favoriten zählen. So weit, so zynisch. Für mich stellt sich in diesem Zusammenhang auch noch eine zweite Frage: Wie lange will ich mir diese Art von Sonntagabend-Fernsehunterhaltung noch geben … oder lasse ich demnächst meine Liebste alleine mit dieser Tradition und geselle mich zu meinen Jungs, um Fußball zu schauen … was sich angesichts der aktuellen Talfahrt des österreichischen Nationalteams allerdings auch als Flop herausstellen könnte … Dann lieber Walser und Wolfgruber – im Wechsel, so dass die schöne Welt der Paralleluniversen mein Dasein weiterhin meisterhaft bereichert.
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Hinweis:
Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Seither habe ich sie auf dieser Seite in meine Tagebucheinträge integriert.
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Juli 2019
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