„ ‚Wenn die Menschen wüssten, was der Tod ist, dann hätten sie keine Angst mehr vor ihm. Und wenn sie keine Angst mehr vor ihm hätten, dann könnte niemand ihnen mehr die Lebenszeit stehlen. … Ich sage es ihnen mit jeder Stunde, die ich ihnen zuteile. Aber ich fürchte, sie wollen es gar nicht hören. Sie wollen lieber denen glauben, die ihnen Angst machen.‘ “ (Michael Ende, Momo) Alles hat seine Zeit. Jede/r hat seine/ihre Zeit. Kairos. Chronos.
Gestern Abend war es wieder soweit. So wie seit zwei Wochen an jedem Sonntag nach dem Einbruch der Abenddämmerung ziehe ich die kürzlich erstandene Junghans-Küchenuhr mit dem dazugehörigen Schlüssel auf. Auf diese Weise wird die Zeit für die kommende Woche aufgeladen, das Uhrwerk läuft mindestens acht volle Tage, wobei ich ihm – wie geschrieben – bereits nach 7 Tagen wieder einen Schubser gebe. Für mich ist dieser Vorgang vom ersten Mal an ein Ritual gewesen. Es gilt der abgelaufenen Zeit zu gedenken und die Kraft der zukünftigen Sekunden, die die Uhr durch ihr eindringliches Ticken laut in den Raum wirft, zu erspüren. Genau das führt mich in die Gegenwart, die einzige Zeit, die tatsächlich existiert. Jetzt. Käme ich keinen Moment ins Aus-dem-Augenblick-Stolpern, ich wäre einer, der tatsächlich ist. Aber diese Kunst ist mir trotz des halben Jahrhunderts, das ich nun schon diese Welt belebe, noch nicht zu eigen. So war ich, werde sein, könnte, sollte, wollte, möchte, müsste, dürfte … und bin so selten. Zudem steht mir ja auch meine Endlichkeit im Weg, deren Grenzen ich schon auf die eine oder andere Weise zu sprengen suchte – ohne Wirkung. Immer wieder bekam und bekomme ich eine Ahnung davon, was Zeit tatsächlich ist, verlasse meinen Chronos, spüre meinen Kairos auf, ohne ihm dauerhaft gewahr zu werden. Zumindest diese Ahnung ist. Schnell falle ich zurück ins Menschenmögliche, in dem die Tage zu meinem Bedauern gezählt sind. Mag sein, dass es auch in meinem Leben den Augenblick geben wird, den Kairos, in dem ich erkenne, dass es genug ist. Voll. Erfüllt. So wie in diesen Momenten, in denen ich aus dieser Zeit falle, um einen Moment lang der Ewigkeit zu fröhnen, wie sie gemeint ist. Das Aufziehen der Junghans-Küchenuhr an jedem Sonntagabend ist mein wöchentliches Exerzitium am Weg dorthin.
1 Comment
M.A. Karjalainen
7/2/2018 08:38:55
Ergänzen möchte ich noch eine Besonderheit dieser Junghans Küchenuhr: Sie hat die Eigenschaft innerhalb von 24 Stunden um gute zwei Minuten nachzugehen. D.h. es gibt auch so etwas wie ein tägliches Ritual, meist feierabends ausgeführt, um morgens bei denen aus unserer Familie, die schon früh rausmüssen (das sind vor allem der Mittlere und der Älteste, die ihren Bildungswegen nachgehen, aber immer wieder auch mal meine Frau oder ich), keinen Stress zu verursachen. Zwei Minuten sind eben zwei Minuten - und die sind wichtig, wenn es gilt den einzigen (Schul-)Bus zu erreichen oder den bloß stündlich fahrenden Zug. Bereichernd finde ich, dass die Uhr nachgeht, auch wenn ich schn versucht habe, mittels der auf der Rückseite befindlichen Rädchen anzutreiben. Diesem Vorgang widersetzt sie sich hartnäckig. Gut so. Denn umgekehrt wäre es in einer ohnehin streng getakteten Zeit wie unserer verkehrt. So mahnt sie mich also allabendlich zur Verzögerung der Zeit wie einst jener Verein zur Verzögerung der Zeit, in dem ich damals Mitglied war. Verzögerung bedeutet auch aus der Zeit zu fallen, bedeutet auch Gelassenheit, bedeutet auch dem Leben das zu geben, was es ausmacht, fernab des Chronos, der unser Dasein so kurz und oberflächlich macht.
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Hinweis:
Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Seither habe ich sie auf dieser Seite in meine Tagebucheinträge integriert.
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