Schon sah ich ihn herannahen. Am Horizont zeigte er sich als dichter werdende Nebelwand, die auf uns zusteuerte. Just in dem Moment wollten wir mit unseren Rädern zum Bahnhof aufbrechen, um von dort mit dem Schienenbus in die Bezirkshauptstadt zu gelangen. Meine Frau hatte eine Einladung zum Abendessen, zu der sie mit Begleitung erwartet wurde. Unser Jüngster und ich waren von ihr dazu auserkoren worden. Noch waren wir zuversichtlich, den etwa zehnminütigen Weg mit dem Fahrrad vor dem Eintreffen des Wintersturms zu erreichen. Doch als wir unsere Jacken und Stiefel angezogen hatten und vor’s Haus in den Innenhof traten, war das Schneechaos mit böigem Wind bereits in vollem Gange. Wir hatten noch 25 Minuten, also mehr als doppelt so viel Zeit als unter normalen Umständen notwendig.
Meine Frau sprach schon von einem Zeichen, einem negativen, dass sie womöglich nicht zu diesem Treffen gehen sollte. Ich relativierte, während unser Jüngste umkehren wollte. Ich sprach ihm gegenüber von einem neuen Abenteuer, dass es nun zu bestehen gelte. Wir sattelten die Drahtesel in der gut geschützten und überdachten Einfahrt. Dann öffnete ich das große Hoftor und wir stapften ins Inferno. Der Wind war gegen uns. Unser Jüngster fuhr wie immer als Erster. Ich folgte, meine Frau hinterher. Nach knapp 100 Metern war Junior - verständlicherweise - nahe dran, schlapp zu machen. Der Wind nehme ihm den Atem, so schrie er dem Sturm entgegen. Wir stoppten, ich band ihm mein Piratentuch, das ich vorsorglich eingesteckt hatte, über Mund und Nase und wir nahmen ihn in die Mitte unseres Treks. Nun ging es besser. Der Schnee fiel waagrecht, der orkanartige Wind wehte ihn uns auch am Boden ständig entgegen. Wir fuhren mit gefühlten minus fünf Kilometern pro Stunde dem Bahnhof entgegen. An der Fußballarena gab es kaum ein Vorbeikommen und ich war nahe dran abzusteigen, zu schieben oder zu Fuß weiter zu gehen. Glücklicherweise gab es gleich danach, als die Kräfte deutlich zu schwinden begannen, auch den Kirchenweg, einen schmalen Fuß- und Radweg zwischen eng beieinander liegenden Häuserreihen. Hier war Durchschnaufen und kurze Erholung angesagt. Ich nutzte sie, um mich nach dem Befinden der hinter mir herfahrenden Familienmitglieder zu erkundigen. Alles Roger. Dann galt es links in die Hauptstraße abzubiegen, der Sturm machte mir das Erlauschen von links kommender Fahrzeuge schwer, sehen konnte man heute noch weniger als sonst. Aber viele waren zum Glück nicht unterwegs. Wir kurbelten die nächsten Meter in einem weiteren angenehmen Windschatten, den die Häuser entlang der Hauptstraße ermöglichten, herunter, der Schnee bedeckte aber an dieser Stelle die Straße schon zentimeterhoch. Ich dachte an das bevorstehende Schneeschaufeln nach unserer Rückkehr, sowohl am Gehsteig vor unserem Haus, als auch im Innenhof. Hoffentlich war niemand so ungeschickt in den Stunden unserer Abwesenheit das Trottoir vor unserem Anwesen zum Ausrutschen zu benutzen. Als wir uns der nächsten Ecke näherten, an der wir nach rechts in die Bahnstraße einzubiegen hatten, peitschten die Böen den Schnee erneut gegen unsere Fahrtrichtung. Ich blickte auf die Uhr. Noch zehn Minuten waren übrig. Ich blieb zuversichtlich, dachte aber kurz nach, ob wir lieber absteigen sollten, um heil um die Ecke zu kommen (und nicht um dieselbe gebracht zu werden). Als wir dort ankamen, herrschte plötzlich Stille. Der Wind hatte sich gerade in dem Moment offenbar für eine andere Richtung entschieden und wir nutzten diese Pause und nahmen die Kurve ohne Probleme. Mein Blick zurück verriet mir, dass die beiden anderen noch hinter mir waren. Die letzten Meter zum Bahnhof warn nochmals ein heftiges Strampeln gegen die Unbill des Winterwetters, dennoch erreichten wir unser Ziel wenige Minuten vor Abfahrt des Zuges, der überraschenderweise pünktlich daherkam und uns dem Treffen wieder ein Stück näherbrachte. Als wir wenige Minuten später den Zug wieder verließen herrschte Ruhe und Frieden. Der Schneefall hatte gänzlich aufgehört und der Wintersturm war abgeflaut. Wir kamen trocken und sicher und überpünktlich in der schon seit dem Mittelalter bestehenden Gastwirtschaft an. Es war ein wunderbarer Abend, an dem wir in die (Un-)Tiefen der regionalen Realpolitik zumindest einmal durch Erzählungen und eindrückliche Schilderungen eintauchen durften. Auf der Heimfahrt dachte ich nochmals an das von meiner Frau bei unserem Aufbruch ausgemachte Zeichen. Und relativierte meine Relativierung. Wenn sich meine Frau für das angedachte Projekt engagieren möchte, dann müsste sie sich ganz sicher warm anziehen, um mit den regionalen Bedingungen zurecht zu kommen und um den Stürmen und Untergriffen ihrer KontrahentInnen trotzen zu können sowie inhaltlich bzw. sachlich etwas weiterzubringen. Wobei das Tempo der erwünschten Fortschritte wohl auch bei gefühlter Minusgeschwindigkeit liegen dürfte. Aufgrund unserer Erfahrung mit dem Sturm, die wir an diesem Nachmittag machen durften, scheinen wir dennoch gerüstet zu sein. Die Frage ist nur, ob die Ausdauer auch über eine kurze Zeit hinausreicht. Meine Frau überlegt noch. Ich würde im Fall ohnehin nur im Hintergrund und als Stützkraft zur Verfügung stehen, da ich meine Aufgaben dort sehe, wo ich schon engagiert bin: der Gegenöffentlichkeit als zivilgesellschaftlicher und zivilcouragierter Aktivist Gehör zu verschaffen. Sie wurde jedenfalls zum nächsten Treffen eingeladen, um sich ein besseres Bild machen zu können Frau wird also sehen! Und Mann mit ihr.
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Hinweis:
Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Seither habe ich sie auf dieser Seite in meine Tagebucheinträge integriert.
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Juli 2019
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