Die Anmaßung könnte größer nicht sein. Die einen sprechen den anderen das Leben ab. Sie teilen ein, in jene, die es verdienen zu existieren und in jene, denen dieses Privileg nicht zusteht. Ich schreibe immer gerne im „WIR“, obwohl ich weiß, dass dies auch jene Minderheit von Menschen einbezieht, die mit einem anderen Blick an die Wirklichkeit herangeht. Die mögen sich nicht gemeint, dennoch vielleicht aufgefordert fühlen, ihre Bemühungen für eine bessere Welt weiterzuführen bzw. zu verstärken, Jede/r auf die je eigene Weise im direkten Umfeld. Denn nur im Kleinen mag sich das Große wirklich nachhaltig verändern.
Mich macht die oben beschriebene Ungerechtigkeit äußerst betroffen. Und da brauchen wir gar nicht über die Grenzen unseres Landes hinausschauen, wir müssen nur ernsthaft einen Blick vor die eigene Haustüre werfen. In meiner neuen Nachbarschaft ist kürzlich ein 52-Jähriger verstorben, Man erzählt, er wäre schon länger arbeitslos gewesen und habe zuletzt nicht nur dem Wein sondern auch dem Wodka zugesprochen. Und aus war’s. Ja, auch so kann’s gehen, wie wohl die Fama natürlich das Ihre zu solchen Schicksalen beiträgt. Wunderlich bloß, dass es entweder niemand in dieser dörflichen Gemeinschaft so genau gewusst hat oder so genau wissen wollte. Und hier sind wir bei einer aus meiner Sicht grundlegenden Herausforderung: Wer von uns möchte gerne bevormundet werden? Wer von uns möchte wirklich gerne „vergewohltätigt“ werden (Zitat Bertrand Stern), wer möchte gerne von Almosen leben, die ein existenzielles Menschenrecht im Mistloch der Gnade ersäufen (dieser Vergleich wird Pestalozzi zugeschrieben)? Niemand! Wie schon Erich Fromm in den 60ern des vorigen Jahrhunderts beschrieben hat, sucht jeder psychisch und physisch gesunde Mensch nach Beschäftigung. Diese Beschäftigung wird nicht nur dem eigenen Wohl dienen, sondern auch einen gesellschaftlich relevanten Beitrag leisten. Wir dulden es aber, dass die Beschäftigung der Menschen eingeteilt wird nach existenzsichernden Tätigkeit (durch Erwerbsarbeit) und nach sogenannten ehrenamtlichen Arbeiten, die man zusätzlich zum Wohl der Gesellschaft tun kann. Ein für mich wesentliches Beispiel, um diesen Irrsinn zu zeigen, ist die Begleitung von jungen Menschen im und ins Leben. Wenn ich bereit bin, meinem Nachwuchs als Elternteil beim Heranwachsen selbst an der Seite zu stehen, dann ist finanziell bald Schluss mit lustig. Auch die nach dem Kindergeld gewährte Familienbeihilfe ist ja – trotz einiger minimaler Anpassungen in den letzten Jahren – niemals wirklich valorisiert worden. Viele andere Leistungen der öffentlichen Hand – wie etwa die PolitikerInnengehälter – jedoch schon. Wenn ich aber meine Kinder in die außerhäusliche Betreuung gebe, um einer Erwerbsarbeit nachkommen zu können, dann fließt plötzlich viel Geld in Infrastruktur und Personal. Nun möchte ich hier nicht über die sicherlich wichtige pädagogische Funktion von Menschen außerhalb der Familie diskutieren, sondern diese grundsätzliche Sichtweise in Frage stellen. Denn auch hier maßen WIR uns an, festzulegen, was gut und richtig ist – und wer daher be-lohn-t wird. Dieses himmelschreiende Unrecht ist also keineswegs gottgewollt oder naturgegeben, sondern menschengemacht. Um es kurz zu sagen: Die Not-wendigkeit eines „garantierten Einkommens für alle“ (Erich Fromm) zeigt sich immer deutlicher. Auf diese Weise käme allen Menschen, das ihnen aufgrund ihrer Geburt zustehende Recht zu, bedingungslos existieren zu dürfen. Alles andere aus meiner Sicht zutiefst unmenschlich. Das trifft auch auf die derzeit in unserem Land herrschenden Verhältnisse zu, die durch die neue Regierung nochmals verschärft werden sollen. Möglicherweise bewirken solche Maßnahmen aber genau das, was es schon längst dringend braucht: eine Initialzündung, um diesem Wahnsinn, sich seine Existenz nicht nur verdienen, sondern auch ständig um sie kämpfen zu müssen, endlich ein Ende zu setzen und mit zukunftsträchtigen Konzepten, Mut und Zuversicht das Neue, das wahrhaft Menschliche zu wagen. WIR könnten natürlich, wenn wir schon dabei sind, gleich auch über unser bestehendes Geld- und Wirtschaftssystem hinausdenken, aber das ist eine andere Geschichte …
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Hinweis:
Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Seither habe ich sie auf dieser Seite in meine Tagebucheinträge integriert.
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Juli 2019
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