Dieser Tag hatte es wieder in sich gehabt. Donner entspannte sich gerade mit einem Glas burgenländischen Rotweins, den ihm ein ehemaliger Klient, ein Weinbauer, der ihn vor Jahren wegen seiner Eheprobleme aufgesucht hatte, zum vergangenen Weihnachtsfest per Post geschenkt hatte. Auf der beigelegten Grußkarte konnte man immer noch seine große Dankbarkeit ablesen und auch seine Bewunderung dafür, dass es durch Donners Begleitung gelungen war, einer am Ende befindlichen Beziehung zu einem neuen Frühling zu verhelfen, der immer noch andauerte.
Was Peter bei anderen gelang, misslang ihm regelmäßig im eigenen Leben. Seine Partnerschaften, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, dauerten meist bloß einige Monate, von Frühling war nur in den ersten Wochen die Rede, diesen folgte meist unmittelbar ein stürmischer Herbst, ehe die ewige Eiszeit ausbrach. Von Zeit zu Zeit erreichte ihn von dort noch der eine oder andere Giftpfeil, meist in Form einer SMS oder einer E-Mail. In diesen Momenten brach in ihm ansatzlos die Gluthitze eines Sommers am Äquator aus und er missachtete alle Regeln der Konfliktbearbeitung, die er seinen Klienten regelmäßig wärmstens ans Herz legte. Das Mobiltelefon läutete, am Klingelton konnte Donner erkennen, dass seine Mutter ihn anfunkte. Das ließ ihn einen Moment zögern und erst nach dem fünften Läuten drückte er die grüne Taste am Display – nicht ohne zu hoffen, dass dieser Knopfdruck um das Bisschen zu spät erfolgte, um eine erfolgreiche Verbindung herzustellen. Erfolgreiche Verbindung waren nicht gerade die Worte, die einem einfielen, wenn man die Beziehung Peters zu seiner Mutter kannte. „Donner“ meldete er sich und musste sogleich zur Kenntnis nehmen, dass seine Gebärerin schlechte Laune hatte. „Was ist denn mit dir los?“, startete diese das Gespräch. „Wie kommst du auf diese Frage, Mutter?“, entgegnete Peter. „Was – wie jetzt – ist das eine deiner perfiden Techniken, um deine Gesprächspartner abzuwimmeln. Das zieht bei mir nicht.“ Und nach einem langen Schweigen setzte sie fort: „Du weißt, dass das mit den Gegenfragen bei mir nicht zieht. Ich will jetzt sofort eine Antwort!“ Donner überlegte, ob und wenn ja, was wirklich mit ihm los sei, und noch ehe er zu Ende denken konnte, begann seine Mutter von ihren Problemen mit seinem Vater zu quatschen und es begann eine der üblichen, kostenlosen telefonischen Eheberatungsstunden für die einzige Frau in seinem Leben, die dauerhaft an seiner Seite verweilte. Während sie also das Übliche von sich gab, hing Peter noch seinen Gedanken über die Frage seiner Mutter nach. Auf ihre regelmäßige Rückfrage „Peter, hörst du mir überhaupt zu?“, antwortete er automatisch mit „Was denkst denn du, Mutter?“ Das hatte sich in ihren Telefongesprächen schon seit Ewigkeiten so eingespielt, er wusste auch, an welcher Stelle er was zu sagen hatte und in der Regel endeten diese Telefonate mit Peters Tipp, es doch mal damit zu versuchen, ihrem Ehemann diese Dinge direkt zu sagen. Peters Mutter redete also und er selbst dachte weiter. Nachdem Susi an diesem Tag gegangen war, hatte er das übliche schale Seelengefühl, das andere schlechtes Gewissen nannten. Es war ihm rätselhaft, warum das immer so war. Er kannte das sonst nur von den vielen Telefongesprächen mit seiner Mutter, nach dessen Ende sich regelmäßig eine ähnliche, wenn nicht sogar die gleiche Stimmung einstellte. Der Klient danach, den Susi beinahe umgerannt hatte, war weiterhin in seiner Sackgasse geblieben und nicht bereit gewesen, mal zurückzuschieben und eine der vielen anderen Straßen zu nehmen, die vor ihm lagen. Für Peter waren diese Kunden anstrengend, weil sich so gar nichts bewegte, andererseits waren sie als Dauerbrenner die, die ihm sein Einkommen bescherten. Von diesem konnte er ausgesprochen gut leben, er hatte vor knapp drei Jahren diese Dachgeschosswohnung am Stadtrand gekauft, direkt gegenüber eines großen Tierparks, in dem die großstädtischen Waidmänner regelmäßig erfolgreich ihr Jagdglück versuchten und für ein paar tausend Euro pro Abschuss dank der den Park umgebenden Mauer ein Wildschwein ums andere erlegten. Hier saß er nun auf seinem Sofa, hörte seine Mutter reden und hing den Erinnerungen an den Tag nach. Die Intuition für Gessler hatte er nicht mehr an den Mann bringen können, da dieser knapp vor seiner Stunde abgesagt hatte. Gegen Bezahlung versteht sich. Bei ihm hatte Peter keine Skrupel und er knöpfte ihm das Doppelte seines üblichen Honorars ab. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, erinnerte er sich in diesem Fall an eine der Weisheiten seiner Oma, um nur ja nicht auch in diesem Fall jenem schalen Gefühl zu verfallen, das er um alles in der Welt nicht schlechtes Gewissen nennen wollte. Woher er diese Aversion gegen das Gewissen hatte, war dem Donner immer unklar geblieben. Seine diesbezüglichen autodidaktischen Reflexionen hatten ihn zwar jedes Mal in seine Kindheit zurückgeführt; da vor allem zu seinem Vater, der seiner Mutter nach das ganze Unheil ihres und damit auch seines Lebens war. Aber kaum stand er dann in Gedanken vor ihm, stand er schon so was von an. „... hat er gesagt, dass er mich verlässt ...“ Peter wurde durch diese Worte seiner Mutter flugs aus seinen Gedanken gerissen und traute seinen Ohren nicht. Was er als nächste hörte war: „... das kann er mir doch nach all den Jahren nicht antun. Und du bist mit Schuld, hast du mir doch dazu geraten, die Dinge offen mit ihm zu besprechen.“ Schweigen, dann Schluchzen, dann wieder Schweigen an beiden Mobiltelefonen. Was hatte seine Mutter da gerade gesagt. Er rang mit sich und den Worten, die er nicht und nicht finden konnte. Als er sich gefasst hatte, trat er dem Schluchzen seiner Mutter entgegen. „Du wirst schon sehen, wenn er sich erstmal beruhigt hat, dann werdet ihr eine neue Gesprächsbasis finden. Es ist in der Regel so, dass ein Mensch, der nach so vielen Jahren erstmals mit den Wahrnehmungen seines Gegenübers konfrontiert wird, die so eklatant von seinen eigenen abweichen, einmal den Rollladen runterlässt. Kein Grund zur Sorge, Mutter. Du wirst sehen, jetzt geht’s aufwärts.“ Am anderen Ende der Leitung war das Schluchzen mit einem Mal verstummt. Peter klopfte sich bereits selbst anerkennend auf die Schulter, als das mütterliche Donnerwetter erst richtig losbrach. An dessen Ende hörte er den Satz: “Er hat bereits die Koffer gepackt und ist aus dem Haus gegangen.” Dann wieder Schluchzen. Peter räusperte sich und meinte: “Das ist ein gutes Zeichen, dass die Koffer noch da sind. Da kommt er noch einmal zurück und dann kannst du ihn dann wieder drauf ansprechen ...” “Du bist und bleibst ein Idiot”, replizierte Frau Donner grollend um gleich darauf wieder in herzzerreißende Tränen auszubrechen. Donner wusste nicht wie er sich der mütterlichen Umklammerung entziehen könnte und machte den Vorschlag, dass er mit Vater reden würde. Kurze Zeit später war dieses Telefonat beendet und er tippte die Nummer seines Vaters ins Handy. Es war kein Freizeichen zu hören sondern gleich das Tonband der Mailbox: “Donner hier, wenn du nicht Grete oder Peter bist, dann hinterlass eine Nachricht, ich melde mich wenn ich Lust habe.” „Wow“, dachte Donner, „das war eine klare Ansage!“ Da konnte er noch eine Menge lernen von seinem Vater. Er befolgte wie üblich die väterliche Anweisung, hinterließ also keine Nachricht und goss sich noch ein Glas des wirklich süffigen Rotweins ein. Von einer plötzlichen Melancholie befallen, holte er eines der Fotoalben seiner Kindheit aus dem Bücherregal. Am Buchrücken prangten in goldenen Lettern die Jahreszahlen 1972-1974. Gleich begann er gedankenverloren darin zu blättern. Das waren tatsächlich die goldenen ersten Jahre seines Daseins auf diesem verrückten Planeten, den zu retten er sich schon bald danach verschrieben hatte. Zuerst als umweltbewegter Aubesetzer, der seinen Großvater mit knapp 12 Jahren erfolgreich nach Hainburg begleitet hatte, in seinen langen Lehramts-Studienjahren an der Uni als Mitkämpfer der grünen Studierenden und schließlich- nach mehreren recht zähen Jahren als Deutsch- und Geschichte-Lehrer an einem Gymnasium der Hauptstadt - als diplomierter Sozial- und Lebensberater. Seine Ideale waren vom Großen zum Kleinen geschrumpft und er hoffte, durch die Rettung des Einzelnen die Welt verändern zu können. Nun stand in wenigen Tagen sein Vierziger bevor und irgendwie hatte er das Gefühl, das Leben liefe ihm immer schneller zwischen den Fingern durch. Er stellte das Album zurück ins Regal und rief nochmals seinen Vater an. Wieder das Tonband mit der Stimme seines Vaters. Doch diesmal ignorierte er dessen Aufforderung und las seinem Vater alkoholermutigt und daher ungeniert die Leviten.
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Das war einer jener Momente, vor denen man sich als Vater immer fürchtet. Für Pertti waren es zwei Situationen, die ihn dieses Fürchten lehrten: nämlich keine Antwort auf eine Frage seines Sohnes zu haben oder ihm eine schlechte, eine sehr schlechte Nachricht überbringen zu müssen.
Gestern abends noch hatten sie sehr ausgelassen den Jahreswechsel gefeiert, es war der erste Silvester gewesen, an dem Matti erst zur gleichen Zeit wie seine Eltern ins Bett gegangen war – und das war gegen zwei Uhr morgens gewesen. Mit dabei war auch Mattis Eisbär gewesen, ein Kuscheltier, das er einmal von der Nachbarin bekommen hatte, als Vorschuss sozusagen. Ja, er musste ihr versprechen, dass er nie wieder so laut toben würde, denn sonst würde der Eisbär wieder weglaufen. Pertti und seine Frau waren in diesem Moment derart perplex gewesen, dass sie kein anderes Wort außer “Danke” herausgebracht hatten, während Matti begeistert vom weißen weichen Fell des neuen Bettgenossen auch nur “Ja, klar” gesagt hatte. Damals war er 4 Jahre alt gewesen. Heute, fast 6 Jahre später, lebte dieser Eisbär immer noch. Die Nachbarin hatte noch viele Male an die Wände geklopft und auch zwei böse Briefe geschrieben, geschehen war aber nichts. Weder war der Eisbär davon gelaufen, noch wurde jemals die Polizei gerufen oder die Hausverwaltung eingeschaltet. Allerdings hatte es doch einige Zeit gedauert bis Mattis Eltern sich wieder entspannt hatten und von ihrem “Sei nicht so laut, sonst rennt der Eisbär weg” wieder losgekommen waren. Matti hatte dann immer seinen Eisbären ganz, ganz fest gehalten - und kein Mensch der Welt hätte ihm diesen in jenen Momenten wegnehmen können; geschweige denn hätte der Eisbär eine Chance zum Weglaufen gehabt. Heute, mehr als sechs Jahre später, war der Eisbär also immer noch Mattis Lieblings-Kuscheltier, obwohl er bereits starke Gebrauchsspuren aufwies und sein Fell schon grau und stumpf geworden war. Dieses Geschenk der alten Dame von nebenan hatte allerdings zur Folge gehabt, dass sich Matti für das Leben der Eisbären zu interessieren begonnen hatte. Mehrmals hatte Pertti mit ihm den Helsinkier Zoo besucht, es waren auch viele Bücher mit und über Eisbären angeschafft worden und es hatte seither keinen Film mit einem solchen Wesen gegeben, den der Junge nicht gesehen hatte. Knapp vor dem Ende jenes Jahres, in dem er den Eisbären unter Auflagen überreicht bekommen hatte, hatte es eine Weltklimakonferenz gegeben, in der sich alle Staaten der Welt nach jahrzehntelangem Ringen auf eine Reduktion der Erderwärmung auf ein für diese erträgliches und für die Lebewesen des Planeten hoffentlich auch überlebensförderndes Ausmaß einigen hatten können. Auf diese Weise hatte man gehofft, das Steuer nochmal herumreißen zu können und die Folgen des Klimawandels einzudämmen. Noch knapper vor diesem Jahresende war es auf dem Nordpol zum ersten Mal seit es Messungen gegeben hatte, um knapp 30 Grad wärmer gewesen als üblich. Die Temperaturen waren sogar im leichten Plusbereich gelegen. Die Bilder, die damals in den Abendnachrichten gesendet worden waren, waren beängstigend gewesen. Pertti dachte an das für ihn schmerzvolle Dahinschmelzen von Schneemännern in den Wärmephasen oder am Ende des Winters im Garten vor dem Landhaus seiner Großeltern draußen vor der Stadt, als er noch ein Kind gewesen war. In diesen vergangenen sechs Jahren allerdings war es zu einer dramatischen Erwärmung der Winter am Nordpol gekommen und das Polareis war extrem schnell geschmolzen. Plusgrade waren in dieser Region nun keine Seltenheit mehr. Umweltorganisationen und Tierschutzvereine hatten mit verschiedenen Aktionen versucht, das Überleben der Eisbären zu sichern. In den ersten beiden Jahren waren zwei Drittel der Population durch Ertrinken gestorben, da das Eis immer dünner und damit nicht mehr tragfähig genug geworden war. Eine der ersten Ideen der von den Regierungen der an die Polarregion angrenzenden Staaten gebildeten Eisbär-Rettungs-Kommission unter dem verblüffenden Namen “Ice-Breaker” war es gewesen, die Bären an den Südpol umzusiedeln. Bloß hatte das Wetter dort nicht mitgespielt, denn die Erwärmung des Nordens hatte keineswegs zu einer Erwärmung des Südens geführt und dieser war daher nicht wie erhofft bewohnbar geworden. In weiterer Folge hatte man begonnen, die noch lebenden Eisbären einzufangen und in Zoos sowie eigens dafür geschaffenen Eisbären-Stationen mit annähernd natürlichen Lebensbedingungen aufzubewahren - dies war auch von der Erwartung geprägt, dass das Klima nach einer kurzen Phase doch wieder in seinen Normalzustand zurückkehren würde. Die Zeit war vergangen, aber die Situation am Nordpol hatte sich zum Entsetzen aller auf diesem Niveau stabilisiert. Auch an Matti waren die Ereignisse dieser Jahre nicht spurlos vorbeigegangen, es hatte vor einigen Jahren einen richtigen Eisbären-Hype gegeben. Die Zeitungen sowie die Radio- und Fernsehnachrichten waren voll von Eisbären gewesen und hatten ausführlich über deren Situation und die geplanten Rettungsversuche berichtet. Nachdem der letzte Eisbär ins Eisbären-Center nach Spitzbergen überstellt worden war, verebbte die Berichterstattung. Was nur mehr eingefleischte Eisbären-Fans mitbekommen hatten - und Pertti zählte aufgrund seines Sohnes dazu - waren die vergeblichen Versuche, die Fortpflanzung der Eisbären in den eigens für sie gestalteten Indoor-Polarlandschaften der Eisbärenstationen in Schwung zu bekommen. “Diese Viecher wollen einfach nicht mehr ...” hatte es einmal ein bekannter Forscher kurz und emotional zusammengefasst. Die Erde hatte schon viele andere Tierarten verloren, daher gewöhnte man sich an die Situation und an eine Welt ohne die Polarbären. Immerhin gab es ja genug Filmmaterial und diesmal musste man sich nicht mit bloßen Spekulationen zufrieden geben wie bei den von allen Kindern weiterhin geliebten Dinosauriern. Dennoch war es ein Schock gewesen, als Pertti in den Frühnachrichten dieses Neujahrstages hörte, dass das letzte Eisbärweibchen in der Nacht im Eisbärencenter von Spitzbergen verendet war. Und das, obwohl man vor wenigen Tagen noch ganz erfreut berichtet hatte, dass die Bärendame durch künstliche Befruchtung trächtig geworden war. Man hatte diesen großen Erfolg medienwirksam sogar mit Sekt und Kaviar gefeiert. Auch Matti war damals ein Stein vom Herzen gefallen und er hatte seinem Eisbären ins Ohr geflüstert, dass nun alles wieder gut wäre. Umso schwerer fiel es Pertti nun, da er seinen Sohn an diesem Neujahrsmorgen aufweckte, die traurige Nachricht zu überbringen, bevor dieser etwas spitz kriegte. Wie sollte er bloß beginnen? Nachdem sein Sohn sich in seinem Bett aufgesetzt hatte, fasste sich Pertti ein Herz. “Matti”, sagte er, “es ist etwas Trauriges passiert.” Dieser starrte ihn mit erschrecktem Blick an, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, setzte Pertti fort. “Heute Nacht ist Mina, das letzte Eisbärenweibchen, in Spitzbergen gestorben.” Matti blieb weiterhin mit seinem starren Blick sitzen. “Es tut mir leid”, fügte Pertti hinzu und wollte seinen Sohn am Kopf streicheln. Dieser aber stieß ihn mit einer schnellen Bewegung seines Armes weg und rannte mit seinem Stoffeisbären ins Badezimmer. Dort schloss er sich ein. Als Pertti zur Badezimmertüre kam, hörte er von drinnen ein lautes, herzzerreißendes Schluchzen. Auf seine beruhigenden Worte reagierte der Junge überhaupt nicht, vielmehr schien es, als würde sein Weinen immer stärker. Er ließ seinen Sohn gewähren und ging in die Küche um sich einen Schluck Wasser zu genehmigen. Dabei überlegt er, wie er seinen Sohn beruhigen könnte. Schließlich weckte er seine Frau und bat sie um Hilfe. Aber auch Irmelis Bemühungen waren vergebens. Dem Schluchzen hinter der Badezimmertüre folgten heftige, hasserfüllte Worte. “Mörder”, schrie Matti. “Ihr Mörderbande, ihr!” Dann trommelte er mit seinen Fäusten von innen gegen die Türe und schrie erneut “Mörder!”. Irmeli und ihr Mann standen ratlos herum und wussten weder ein noch aus. Da klopfte es auch noch an der Wohnungstüre. Davor stand die alte Nachbarin, die wutentbrannt sofort die Rückgabe des Eisbären forderte, den sie Matti vor Jahren mit Vorbehalt geschenkt hatte. Pertti lud sie in seiner Verzweiflung ein, ihr Glück bei Matti zu versuchen. Er erzählte ihr in kurzen Worten, was vorgefallen war. Die alte Dame erstarrte und begann kurz darauf ungehemmt zu weinen. “Mörderbande!”, flüsterte sie. Als sie sich gefasst hatte, ging sie zur Badezimmertüre, klopfte und sagte mit starker, lauter Stimme: “Komm, Matti, genug geheult, lass uns diese Mörderbande finden und den Tod der Eisbären rächen.” Und kurze Zeit später ergänzte sie: “Und zuerst machen wir uns einen Kakao und überlegen uns, wie wir das am besten hinkriegen.” Es dauerte nicht lange, da öffnete Matti mit tränengeröteten Augen und ebensolcher Nase die Türe, seinen Eisbären unter den Arm geklemmt. Er nahm die ihm angebotene Hand, schaute seine Eltern mit eisigem Blick an, flüsterte ihnen ein heftiges “Mörder ihr!” zu und zog mit der Nachbarin ab. Am gleichen Abend kamen in den Nachrichten Forscher zu Wort, die es für möglich hielten, aus den in den letzten Jahren für alle Fälle aufbewahrten Stammzellen der Eisbären, solche zu klonen. “Wir werden uns doch von dieser primitiven Natur nicht unterkriegen lassen!”, so die eine. Und ein anderer: “Der Mensch ist doch die Herrenrasse hier, geboren um die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Also lasset uns Tiere machen nach unserem Abbild.” Das breite Grinsen dieses Typen wirkte in Pertti noch lange nach. Immer schon hatte er sich gewünscht, den Weihnachtsabend am Strand zu verbringen, dabei eher an den Süden gedacht und an die milde, würzige Luft des Meeres und an einen Spaziergang in leichter, lockerer Bekleidung.
Nun schlenderte er am Ufer dieses großen Sees entlang, in der Nähe seines Mökkis im Südwesten Finnlands. Dieses kannte er von seinen Sommeraufenthalten bestens, hatte seinen warmen Nordpol-Stiefel aus seiner Heimat an und war in seine Icepeak-Jacke eingepackt, zusätzlich einen wärmenden Schal um Hals und Mund geschlungen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, so dass nur ein schmaler Schlitz für die Augen übrig blieb. Sehen konnte er ohnehin kaum etwas in dieser nördlichen Dunkelheit, die derzeit fast den ganzen Tag anhielt, obwohl die Wintersonnenwende schon wieder einige Tage zurücklag. Kalt und sternenklar lag diese noch mondlose Nacht um ihn, der wenige Schnee, der Anfang des Monats gefallen war, war längst wieder geschmolzen. So spazierte er also langsam und gemächlich, bloß seine eigenen Schritte und von Zeit zu Zeit das Brechen kleinerer Wellen des Sees hörend, der in der Windstille fast glatt da lag, blieb immer wieder stehen um in das Schwarz, das ihn umgab, zu blicken oder um am Nachthimmel die ihm vertrauten Sternbilder zu entdecken. In seiner Tasche hatte er eine Thermoskanne randvoll mit heißem Glögi, ebenso zwei Stück Roggenbrötchen, ein paar von den von ihm selbst frischgebackenen Weihnachtssternen und eine Aludecke für das geplante Picknick. Sein Kopf war in der klaren Winternachtluft voll mit Gedanken und vor allem Erinnerungen an die Weihnachtsabende seines nun schon mehr als vier Jahrzehnte währenden Lebens. Da gab es diese und jene, aber einen solchen wie heute, den hatte es noch nie gegeben. Er hielt ein weiteres Mal, atmete tief durch und schaltete die Stirnlampe ein, um sein mitgebrachtes Strandpicknick zu genießen. Er suchte das sandige Ufer nach einer passenden Stelle zum Sitzen ab und als er sie gefunden hatte, machte er es sich bequem. Wenig später saß er, mit nun wieder ausgeknipster Stirnlampe da, und genoss die mitgebrachten Köstlichkeiten. Der heiße Glögi dampfte und mit jedem Schluck füllte sich seine Körpermitte mit wohliger Wärme, die nach und nach auch die Gliedmaßen erreichte und schließlich auch seine Wangen erhitzte. Er hatte, um der Kälte vorzubeugen, auch einen Schuss Wodka dazugemischt, was sich jetzt eindrucksvoll bewährte. Der See lag immer noch fast glatt da, die eine oder andere Welle brach sich in unregelmäßigen Abständen am Ufer und die Nacht lag still um ihn. In der Ferne sah man von Zeit zu Zeit das Aufblitzen von Scheinwerfern oder Rücklichtern von auf der Uferstraße fahrenden Autos. Die Welt nahm auch heute ihren Lauf, obwohl doch mit diesem Fest eine Unmenge an Hoffnungen verbunden war, die regelmäßig enttäuscht wurden. Immer wieder hatte er erfahren wie sein Leben vor den Weihnachtsfeiertagen plötzlich an Fahrt aufgenommen hatte, als wäre ein stürmischer Nordwest plötzlich und unerwartet in die Segel seiner Jolle gefahren. Dann hatte er alle Hände voll zu tun, um der neuen Wetterlage Herr zu werden. Diese Dynamik war dann regelmäßig in der Nacht der Nächte zu Ende gegangen, meist mit einem unbefriedigenden Gefühl für ihn. Egal in welche Lebensverhältnisse es ihn verschlagen hatte, irgendetwas stimmte mit diesem Fest nicht - oder mit ihm und seinem Verhältnis dazu. Daraus war auch sein regelmäßiges Sehnen entstanden, den Heiligen Abend am Meer zu verbringen, weit fort von seinem alltäglichen Leben, geborgen in der Ferne mit dem freien Blick auf den Horizont und allein, um endlich eins zu werden mit dem Leben, seinem Leben. Er wollte endlich geboren werden, zu dem werden, was er war, aber immer noch nicht entdeckt hatte. Regelmäßig aber war er abgelenkt worden, hatte sich vielleicht auch ablenken lasse, es hatte immer dann, wenn er gerade das Gefühl hatte, der Durchbruch ins Sein stehe grade bevor, einen Umschwung in seinem Umfeld gegeben, der ihn zum Kurswechsel gezwungen hatte. Die Gründe dafür waren mittlerweile unzählige und die Zeit schien ihm davonzulaufen. Das spürte er jetzt hier am dunklen Seeufer ganz deutlich. Er nahm es wohl auch deswegen so intensiv wahr, weil er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich allein war. Kein Mensch, der mit ihm mitgekommen war, um im Mökki die Feiertage mit ihm zu verbringen, auch kein Mobiltelefon, das ihn stören konnte, weil er es einfach abgestellt hatte. In diesem Moment packte er schnell seine Sachen, stand auf und begann weiter zu gehen. Nach einigen Schritten fiel ihm auf, dass er sein Tempo wesentlich beschleunigt hatte, fast so als wäre er in Eile oder auf der Flucht. Er blieb stehen und lächelte. Es gab keinen Grund wegzulaufen. Es gab vielmehr allen Grund jetzt bei sich zu bleiben und auf das zu horchen, was da in den letzten Wochen in ihm heranzuwachsen begonnen hatte. Langsam schlenderte er weiter, in sich und seinen Gedanken versunken, als er sich in etwas verfing, das da am Strand lag. Da er seine Füße nicht befreien konnte, schaltete er die Stirnlampe ein. Er hatte sich offensichtlich in einem dünnen, grünen Bootstau verheddert. Da er die Leine um seine Knöchel nicht loswurde, legte er die Tasche ab und setzte sich in den kalten Sand. Nach und nach gelang es ihm das eine Ende der Schnur, in das er sich verwickelt hatte, loszuwerden. Das andere Ende lag in der Dunkelheit, er konnte es nicht erkennen. Da der Schein seiner Stirnlampe nicht so weit reichte, zog er am Tau bis ein kleiner, rosafarbener am Seil befestigter Styroporquader in Sicht kam. Er schleifte das Ding zu sich heran und nahm es in die Hände. Auf den Quader war mit blauem Filzstift eine Telefonnummer drauf geschrieben. Er untersuchte das federleichte Stück Styropor auf andere Merkmale, konnte aber sonst keine entdecken. Sofort nachdem er die Telefonnummer entdeckt hatte, begann er in seinen Gedanken zu fantasieren. Da fielen ihm die banalsten und die wildesten Geschichten ein, jedenfalls war er mit einem Mal wieder herauskatapultiert aus seiner Welt und gefangen genommen von den Aussichten, die dieser Eintrag ermöglichte. Es waren viele Leben, die ihm durch den Kopf spukten, er wusste nicht, welcher Spur er folgen sollte, er ließ sich dahintreiben und bemerkte gar nicht, dass vor wenigen Minuten der Mond aufgegangen war und den See und die ganze ihn umgebende Landschaft in ein wahrlich gespenstisches Licht tauchte. Viele Minuten, ja sogar Stunden zogen dahin, ehe er der wieder Umgebung und seiner Existenz gewahr wurde. Er stand da am Ufer des Sees, erhitzt von seinen Gedanken und der Kälte trotzend, die Stirnlampe war längst erloschen. Der nahezu volle Mond machte nunmehr alles ganz hell. Er griff in seine Tasche und suchte nach seinem Mobiltelefon, das er für den Notfall mitgenommen hatte. Und um einen Notfall könnte es sich ja auch handeln bei dieser Botschaft, die aus einer Telefonnummer bestand, auf diesem Stück rosa Styropor. Hastig schaltete er das Handy ein, tippte den PIN in die Tastatur und wählte die Nummer. Er musste gar kein Freizeichen abwarten, denn sofort meldete sich eine tiefe, beruhigende aber dennoch seltsam anregende Frauenstimme, die von einladender Musik im Hintergrund begleitet wurde. Er hörte: “Hyvää Joulu-iltaa, sinullekin, yksinäinen mies kylmässä Joulu-yössä, täältä löydät lämpöä, rakkautta ja seksiä. Eikä se maksa kuin 6,66 euroa minuutissa, paina ykköstä ja puhu Tanjan kanssa, paina kakkosta ja Jenni viihdyttää sinua vaikka loppuillan tai paina kolmosta, niin pääset juttelemaan Annelin kanssa. On siis valinnan varaa ... “ , drückte die 3 und überließ sich dem Leben, ließ kommen, was da kommen wollte. Es ist so weit. Alle Jahre wieder in der zweiten Oktoberhälfte, dann wenn der Abend eines klaren Herbsttages anbricht, stellt es sich ein: das lila Leuchten. Und es ist nicht nur draußen, weit außerhalb der Stadt zu sehen. Es ist, wenn man einen achtsamen Blick dafür hat, überall zu entdecken, auch mitten in der Großstadt.
Das erste Mal ist es mir vor mehr als 20 Jahren aufgefallen, als ich in den bewaldeten Hügeln im Norden meines Heimatlandes meine Herbstferien verbracht habe. Ich bin mit meinen Töchtern bei einer Freundin meiner Frau, die ebenfalls eine Tochter hatte, zu Besuch gewesen. Sie hat für uns ein feines Quartier zurecht gemacht, das kleine Bauernhäuschen ihrer Eltern, das sein zweites Leben als Touristenunterkunft erhalten hatte. Es ist beschaulich am Rand des Waldes gelegen, abseits einer Forststraße, die kaum befahren gewesen ist. Als ich es am Nachmittag unseres ersten Ferientages in der letzten Oktoberwoche jenes Jahres erstmals zu Gesicht bekommen habe, habe ich den heiligen Schauer und die Verheißung, endlich zu Hause angekommen zu sein, verspürt. Ich habe ihn erst einige Wochen später, als ich mein Leben in der Hauptstadt wieder aufgenommen hatte, richtig deuten können. Die Sehnsucht nach diesem Haus, nach diesem Wald, nach diesen Tagen und nach ihr, die mich seither zumindest einmal im Jahr befällt, ist bis heute lebendiger Ausdruck dieses beeindruckenden Gefühls. Nun waren wir also im Haus angekommen und Melina hat mir die Schlüssel mit einem kecken “Fühlt euch wie zuhause” übergeben. Ihr Blick hatte die eine Sekunde länger gedauert als es belanglose Blicke zu tun pflegen. Damit ist dieser Moment zu einem besonderen Augenblick geworden - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben uns für einen Spaziergang eine Stunde später verabredet, der dann töchterbedingt, später als geplant, schon in der Dämmerung dieses Tages stattgefunden hat. Er hat uns nur ein kurzes Stück in den Wald geführt, der in dieser Gegend sehr dicht steht, so dicht, dass es meinen Kleinen bald bange geworden ist an jenem Abend. Wir haben unseren Ausflug also sehr bald beendet und uns von Melina und Tochter kurz nach dem Zusammentreffen gleich wieder verabschiedet. Diesmal ist es ihr Händedruck gewesen, der mich noch bewegt hat, als die Mädchen schon im Bett gelegen sind. Er ist mir sehr vertraulich, ja auch vertraut vorgekommen obwohl wir uns doch vorher nur oberflächlich begegnet waren. Meine Frau und Melina hatten einander kennengelernt als auch Melina noch in der Hauptstadt gelebt hatte. Von da an waren die beiden hie und da miteinander unterwegs gewesen, und wir beide hatten uns nur in den wenigen Momenten gesehen, als Melina meine Frau von unserer Wohnung abgeholt hatte. Einmal oder zweimal waren wir gemeinsam mit unseren Töchtern in einem nahen Park gewesen, aber da hatte ich bereitwillig den Kinderdienst übernommen und die beiden Freundinnen hatten das Leben bequatscht. In der völligen Stille des Häuschens, in der ich sogar das Atmen meiner Töchter im Nebenzimmer hören habe können, fernab der alltäglichen Hauptabendprogrammroutine meines großstädtischen Zuhauses, habe ich versucht, dem Sinn dieses Händedrucks nachzugehen. Ich habe mich an dessen Wärme erinnert, ich habe ihn mit anderen Händedrücken zu vergleichen begonnen, ich habe mich trotz aller Bemühungen nicht mehr daran erinnern können, dass meine Frau und ich jemals einen Händedruck gewechselt hätten - und wenn doch, dann sicher keinen solchen. Ich habe mich in diesen Stunden im Fluss meiner Gedanken immer weiter von dort entfernt, wo ich erst wenige Jahre vorher Wurzeln zu schlagen beschlossen hatte. Ich habe zu träumen begonnen, was aus Melina und mir werden könnte, wenn ich diesen Händedruck ernster nähme als er womöglich gedacht war. Erst als meine jüngere Tochter mich mit ihrem albtraumerschreckten Schreien in die Gegenwart zurückgeholt hatte, habe ich wieder auf die Uhr geblickt. Es ist schon weit nach Mitternacht gewesen. Es ist also höchste Zeit geworden, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, um am schon begonnenen Tag einen guten, entspannten Vater abzugeben. Außerdem ist für den nächsten Nachmittag der Besuch einer Vernissage in einem nahe gelegenen Schloss am Programm gestanden, der in Begleitung meiner Töchter sicher auch die eine oder andere Herausforderung zu bieten hatte. Die Nacht ist traumerfüllt und schnell vergangen und ich bin mit dem Gefühl des zeitlosen Jetzt erwacht, das keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, nur diesen Augenblick. Verschwebendes Schweigen als ich ins Innere des Häuschens lauschte, ebensolches als ich’s durchs geschlossene Fenster nach draußen hindurchhorchte. Aber der Tag ist schon angebrochen gewesen, das grelle Licht der Sonne, die schon durch die Vorhänge ins Haus hinein geschienen hat und vor deren Helligkeit ich die Augen zukneifen musste, hat dies eindrucksvoll bezeugt. Nach einer kalten Dusche, die auf meiner Nachlässigkeit beruht hat, dass ich ob meiner Tagträume am Vorabend den Heißwasserspeicher nicht eingeschaltet hatte, hat der Tag schnell an Fahrt aufgenommen. Am Vormittag sind Melina und Tochter plötzlich vor unserem Haustor gestanden. Wir hatten uns eigentlich erst für den Nachmittag verabredet gehabt, um die Ausstellung im Schloss zu besuchen, daher bin ich überrascht gewesen. Es ist aber eine angenehme Überraschung gewesen, die allerdings schnell verflogen ist, als Melina angespannt den Wunsch geäußert hat, ich möge mich um ihre Tochter kümmern da sie noch einen wichtigen Weg zu erledigen hätte. Als Melina auch gegen Mittag noch nicht zurück gewesen ist, habe ich schon mal für die Mädchen und mich Spaghetti gekocht. Ich habe sogar eine Portion mehr gemacht, falls Melina nach ihrem wichtigen Weg hungrig ins Häuschen zurückkehren würde. Bloß gekommen ist sie nicht. Also habe ich den Mädchen auf dem Sofa in der Wohnküche eine Mittagspause verordnet, die sie nur leidlich angenommen haben. Immer wieder habe ich die drei zur Ruhe mahnen müssen, während ich im Schaukelstuhl vor dem Kachelofen meinen sorgenvollen Gedanken nachgehangen bin, wo Melina denn um alles in der Welt solange bliebe. Und dann hat es plötzlich an der Türe geklopft und die Mädchen sind sofort drauf los gestürzt, um der endlich zurückgekehrten Melina zu öffnen. Sie hat sehr mitgenommen ausgesehen, als sie ins Häuschen getreten ist, hat aber kein Wort über das in den letzten Stunden Erlebte verloren. Ihre Tochter hat mir dann mit ihrer Frage nach ihrem Vater einen Hinweis gegeben, so Melina die letzte Zeit verbracht haben könnte. Weder hat sie die für sie aufgehobenen Nudeln essen noch einen Kaffee trinken wollen, vielmehr hat sie ihre Tochter schnell angezogen und ist stante pede aufgebrochen. Kein Händedruck, kein weiterer Augenblick, ich bin verloren im Vorraum gestanden, von einem unbestimmten Schmerz erfüllt. Meine Töchter aber haben mich rasch wieder in den Alltag geholt. Die Fahrt zum Wasserschloss im Nachbarort wenige Stunden später in Melinas Wagen ist dann großteils schweigend verlaufen, also zumindest was uns Erwachsene betroffen hat. Die Mädchen haben sich auf der Rückbank des Wagens köstlich amüsiert und sind auch während der Vernissage noch recht überdreht gewesen. Dort angkommen sind wir den Bildern gefolgt, haben einen Raum nach dem anderen begangen, und haben mit den Kindern mehr zu tun gehabt als uns lieb gewesen wäre. Die Bilder jener Künstlerin, deretwegen ich mich schon so auf diesen Nachmittag gefreut hatte, haben nur Schatten geworfen, aber keinen lebendigen Eindruck hinterlassen. Irgendwie ist über alldem auch Melinas Stimmung gelegen, die ich nicht deuten habe können und zu der sie mir auch keinen Zugang verschafft hat. Auf der Rückfahrt dann, in der Dämmerung dieses klaren Spätoktobertages, sind wir direkt in einen beeindruckenden Sonnenuntergang hineingefahren. Die dunklen Wipfel der Wälder haben sich an einem tiefblauen Horizont abgezeichnet. Ein paar Schleierwolken haben die orangerote Sonne beim Untergehen begleitet. Als die Sonne am Ende der Ebene zu verschwinden begonnen hat, hat sich das Rot ihrer letzten Strahlen mit dem Blau des Himmels vereint und mir zum ersten Mal in meinem Leben das lila Leuchten beschert. Auch Melina ist von diesem plötzlichen Farbwechsel am Himmel aus ihren Gedanken erwacht und hat das Auto an den Fahrbahnrand gefahren. Wir beide sind unter dem Protestgeschrei unserer Töchter aus dem Auto gestiegen und haben uns das beeindruckende Schauspiel da draußen angeschaut. Als wir beide so auf der Kühlerhaube des Pkws gesessen sind, hat Melina plötzlich meine Hand genommen und leise und bedächtig vor sich hingemurmelt, dass das Leben doch schön wäre. Ich habe zu ihr hingeblickt, während sie immer noch meine Hand gehalten hat. Sie aber ist in seltsamer Übereinstimmung mit diesem Augenblick ins Lila des Abendhimmels versunken gewesen. Nun stehe ich hier am Fenster meiner Wohnung am westlichen Großstadtrand. Heute, in dieser Dämmerung Anfang November ist es - wie schon so oft seit jener Zeit - zurückgekehrt das lila Leuchten des Abendhimmels. Es entführt mich auch diesmal zu jenem Augenblick mit Melina am Straßenrand auf unserem Heimweg vor vielen Jahren. Es weckt auch heute wieder diese Geborgenheit des Zuhauseseins in Melinas Häuschen, das Einssein mit mir und der Welt, das ich damals zum ersten Mal so deutlich empfunden habe. Melina habe ich nach diesem Moment in den ersten Jahren noch das eine oder andere Mal gesehen, meist in Begleitung jenes Mannes, des Vaters ihrer Tochter für den sie damals ihren mir noch immer unbekannten Weg auf sich genommen hatte. Seit meine Töchter erwachsen geworden sind und ich von meiner Frau getrennt lebe, habe ich die Wälder des Nordens nie mehr besucht. Ich habe diesen Augenblick, der mir für immer gegenwärtig sein wird, niemals aufzuscheuchen versucht: Das Zuhause in den waldigen Hügeln im Norden und Melina mit ihrem sanften, lange währenden Händedruck und ihren Worten beim Blick ins und unserem gemeinsamen Sein im Lila jenes Abendhimmels. Tim nervt. Vielleicht, weil er ohne Struppi unterwegs ist. Vielleicht auch, weil er ständig „sozusagen“ sagt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.
Der blonde Haarschopf, okay. Aber dann: Nerd-Brille, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schnürschuhe und kanariengelbe Socken. Und ein weißes Smartphone, das er in der linken Hand hält und auf dem er, auch während er redet, ständig mit dem rechten Zeigefinder tippt und mit dem linken Daumen wischt. Es stimmt mit ihm ne ganze Menge nicht. Und er heißt Niki. Die Sitzung zieht sich schon viel zu lange hin, ich denke an den bevorstehenden Saunaabend mit meiner Männerrunde. Niki ist kein Teil davon. Und das ist gut so. Grade eben hat er wieder „sozusagen“ gesagt. Ich find ihn sozusagen Scheiße. Irgendwie schleimt er. Aber wen will er damit beeindrucken? Die Hagere, deren linker Mundwinkel sich seit unserer letzten Begegnung vor einigen Woche noch tiefer nach unten gezogen hat - Richtung Schlaganfall sozusagen – und die grade irgendetwas von Bewerbungsfotos im Bikini faselt, mit denen sie überhaupt nicht einverstanden wäre. Ihr diesbezügliches Foto wäre jedenfalls nicht beeindruckend genug, denke ich. Ach, Katrin! Oder den Vertreter der Geschäftsleitung, Jean, Sakko, gestreiftes Hemd, einen dicken goldenen Ehering, ein großes schwarzes Smartphone, mit dem Nikis nicht mithalten kann, auf das er von Zeit zu Zeit dezent blickt und hie und da noch dezenter tippt. Auch sein Wischen ist nur ein ganz klein wenig in die eine oder andere Richtung verlängertes Tippen. Joe - wie er sich nennen lässt – hat kurze an den Spitzen schon ergraute Haare, die er Mitte rechts gescheitelt hat. Das erzeugt eine lustige Welle in seiner Frisur, da die Haare zuerst noch gegen den Scheitel wachsen und sich dann erst in einem hohen Bogen dem Diktat ihres Besitzers beugen. Tränensäcke unter seinen Augen komplettieren das Bild eines verbrauchten Mittvierzigers, der sich Hoffnung auf mehr macht – und das wahrscheinlich schon zu lange. Auch er kein Typ für meine Männerrunde. Niki, Katrin und Joe sowie eine Gruppe von grauen, namenlosen Frauen und ich. Eine bunte Truppe von Söldnern im Dienste der Unternehmung Mensch. So lautet einer der Slogans der Werbeschiene dieser Firma, die sich um die Weiterbildung von Menschen kümmert und dabei ihre Mitarbeiter nicht vergisst. Zumindest fast nicht. Und die öffentliche Hand zeigt sich sehr dankbar, offen und spendabel. Wir müssen darauf achten, dass alles korrekt abgerechnet wird und in die richtigen Kanäle fließt, sagt Joe. Wie recht er hat. Die Kanäle in der obersten Etage sind sozusagen etwas breiter als jene, in denen wir schwimmen dürfen. Aber man muss doch auch auf die Bedürfnisse der Zielgruppe Rücksicht nehmen, meint Tim, äh Niki und das diesmal ganz ohne „sozusagen“. Meint er das jetzt ernster als seine anderen Sprüche? Sympathischer macht es ihn mir nicht. Die Diskussion, die nun entsteht, beehre ich mit der Bemerkung, dass ich glaube, dass wir ohnehin an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbeiproduzieren, weil „die brauchen ganz was anderes“. Kurzes Schweigen. Ich bin erschrocken, weil ich hoffte, dass dieser Einwurf ohnehin nicht wahrgenommen würde. Die Pause im Gequassel dauert nur kurz, Joe schickt noch einen ernsten Blick in meine Richtung, Niki nickt. Wie hab ich das verdient? Er greift das Argument sogar auf und startet eine Grundsatzdiskussion, in der sich vor allem die Hagere als Rächerin der Enterbten entpuppt. Und als eine der Frauen, die bei den derzeit entwickelten Konzepten überhaupt zu wenig berücksichtigt würden. Ich freue mich, dass ich Niki ins Rennen für die gute Sache geschickt habe und denke an den Saunaabend. Da wird die gute Laune fließen wie Schweiß und Bier. Da wird das Leben gefeiert als gäbe es kein Morgen. Da werden Geschichten erzählt wie sie das Leben niemals schrieb. Da wird die Männerfreundschaft zelebriert als wären wir das wirklich starke Geschlecht, gegen das keiner ankommen kann. Da werden Siege vorgeführt, die niemand außer dem Erzähler mitgekriegt hat. Oh gute, starke Männerwelt. Was wäre Mutter Erde ohne dich? „…sind auch nicht ganz ohne!“ „Bikini?“, frage ich mich. Erst dann kriege ich mit, dass die Aufmerksamkeit der ganzen Truppe auf mich gerichtet ist. Ich bewege den Kopf langsam auf und ab, als wollte ich nicken, bin mir aber nicht ganz sicher, was man jetzt von mir erwartet. Da hilft nur ein Gegenangriff: „Und wie siehst du das, Tim … äh, Niki?“ Überraschung in der Runde. Niki rudert mit den Armen, rutscht unruhig am Sessel hin und her und pariert meinen Angriff mit den Worten: „Was konkret meinst du damit?“. Ich gebe mich noch nicht geschlagen und fordere ihn nach einer kurzen Pause mit den Worten „Na ja, das soeben Gesagte oder etwa nicht?“ heraus. Wie lange wollen wir jetzt noch Ping-Pong der Worte spielen, denke ich. Niki hat keinen Spaß mehr daran und zieht sich beleidigt in sein Schmollwinkerl zurück. „Ach, was weiß ich, sollen die anderen was sagen!“ Touché! Ich nippe an meinem Glas mit Juice und lehne mich mal entspannt zurück. In meinem Mund verwandelt sich die Flüssigkeit in herrlich kühles Bier und um mich herum mutieren die grauen Mäuschen zu einer illustren Damenschar im Saunabuffet. Ich bin verblüfft, da ich doch den Anspruch habe, ernsthafte Gedanken zu wälzen und mich nicht vom Treiben der Welt verführen zu lassen. Also konzentriere ich mich nochmals auf Niki, der jetzt sehr verkrampft und mit verschränkten Fingern in seinem Sessel lehnt. Woran er wohl gerade denkt? Wäre er tatsächlich Tim hätte er sicher eine andere Lösung für seine Situation. Er würde auf den Tisch hüpfen und den Überraschungseffekt zu einer spektakulären Flucht durch das Fenster und über die Fassade nützen. Unten würde schon Struppi auf ihn warten, um eventuelle Verfolger zu verbellen. Aber so bleibt er einfach sitzen und lässt sich das alles gefallen, der Niki. Niki ist eben doch nicht Tim. Mein Beitrag zum FM-Wortlaut 2015 die nacht. der schuss. das schreien. erst seins. dann ihrs. wild er. erschrocken sie. er fällt, bleibt liegen. sie rennt, fällt und rennt wieder. wund er. verwundert sie. sein atem schwer, der ihre schnell, begegnen sie einander, in ihren wäldern, wieder - nach drei tagen langer zeit.
warst wirklich du das nachts da draußen? du und nicht sie, die vorzugeben du mir schienst? Warst wirklich du des nachts da draußen in den wäldern hinter unserer hütte, in der wir uns zum ersten mal geliebt? konntest du mich tatsächlich so hinters licht führen wie damals auf die lichtung, auf der wir uns zum letzten mal geliebt? würdest du es wirklich wagen, das was uns einmal heilig war, auf diese weise zu entehren? wärst du jetzt noch an meiner seite und nicht dagegen, wenn wir drei tage vorher die auseinandersetzung nicht gehabt. nur wegen ihr, die vorzugeben grade eben die wälder du durchschlichen hast um mich endgültig zu beschämen? sein blick – die vielen fragen. und dann ihr blick - ein einzig fragen. und ihr entsetzen, welchen bock sie da erlegt. wie konntest du nur diese frage stellen, die eine, die nie zu stellen wir versprochen? wie nur, aus welcher kraft hast du dies „sie oder ich“ der dunklen lichtung mitten in das antlitz spucken können? in deins, in meins. wolltest du mit füßen treten, was uns verbunden hat, wolltest du bloß zerstören, auch mich, auch dich, uns - sie? wußtest du nicht, dass auch vergangenes niemals durch gegenwart vergeht? auch wenn sich seine lippen nur schwach bewegen lassen, bewegen sie ihr herz – und weh wird ihr um diese liebe, die sie mit einem schuss ins dunkelblaue für alle mal beendet hat. warst du bei dir in dieser nacht, ganz du, ganz selbst? scheinst du nur außer dir zu sein? wäre ich nicht hinters haus gelaufen, als ich die schritte hörte, ihre, deine, hättest du dann mut gehabt, mir drinnen zu begegnen im licht der kerzen, die ich für unser erstes treffen hier besorgt? besorgter ringt er um die worte, die gurgelnd nur aus seiner kehle flehen. sie legt den zeigefinger ihrer rechten auf seine lippen. und mit der linken streicht sie ihm durchs haar. wieso jagt eine da die andere, von der sie nichts zu fürchten hat? warum will mensch des andern wolf sein, was wolf dem wolf nie wagen würde? magst du da draußen im blute unseres lebens liegen, dicht neben ihr, nah neben mir? hast du den plan gehabt, mich zu bekriegen, in dem du mich auf diese weise kriegen wolltest, um auszuweiden bei lebend’gem leib mich, um ausbluten zu lassen mein herz, die leber unserer lieb’ zu rauben? wie konntest du gesetz und ordnung unserer verbindung so verletzen, die wir uns untertan gemacht auf dieser lichtung vor jahr und tag für immer? wolltest du fortan nur gesetzlos leben – den wäldern outlaw jane calamity? sein blick schweift ab. und Ihre hände nutzen den augenblick und fassen seine – mit einem ruck zerrt sie den überraschten die meter weiter bis zu einer kuhle, in der es sich beenden lässt. weidwund ist todgeweiht. erinnerst du nicht mehr die stunden, in denen blut floss, schnell, so schnell, dass dein, mein atem dem eines jagenden, gejagten tieres glich? denkst du nie mehr an die erschöpfung nachdem getan war, was getan sein musste, getan für mich, für dich, doch nicht vorbei? wagst du dich jemals noch an diese grenzen, die du mich überschreiten hast gelehrt, das eine um das andere mal, weit, tief ins unvertraute, unbekannte? kennst du den weg noch, den zurückzufinden wir nie und nimmer schaffen konnten trotz anderslautender versprechen? weißt du nicht mehr, als mein vertrauen brach zum ersten mal und ich mich des vertrauens nicht würdig fand obwohl du mein vertrauen hast missbraucht? bist du dir all der irrwege bewusst, die wir arterien gleich ins dickicht zogen? meinst du nicht auch, dass wir darin das herz verloren, du, ich, von nun an herzlos, blutleer, kalt und frierend bar jeder hoffnung auf unseren lebensstraßen zogen? Hattest du mein gefühl, dass wir der zukunft starben an dieser lichtung, so dunkel wie die nacht? er schließt die augen, erstmals seit jenem schmerz, der herzsüdwärts all seine glieder flammendrot durchzog. und sie bedeckt sehenden auges, so gut dies in der dunkelheit gelingt, den schmerz mit laub vom letzten herbst, der früher kam als ihre sommerlaune wollte. was willst du noch, bevor das auge bricht, mein dein? willst du es wissen, wieder, wieder, wieder? “ich oder sie”, “ich oder sie”, “ich oder sie”? wie oft noch? willst du die antwort auf die eine frage mir aus der kehle pressen, röchelnd in meinem letzten atemzug? weißt du, dass es auch dann niemals gewissheit geben wird, du dir nie mehr gewiss sein kannst? hast du nicht schon genug gelitten an ihr, mir und dir selbst? ist frieden möglich in diesem heißen krieg, ist es die ruhe nach dem sturm? kennst du die folgen von „ist blut in wallung“? folgt darauf nicht erst recht verfolgung? bist du dir deiner sache sicher, der sicherheit, der meinen und der deinen? kennst du das schicksal bergers noch, der heute noch mit leerem blick die welt bestaunt vom pflegeheim da oben, nachdem er alle mit sich sterben lassen wollte aus seines großen vaters büchse? willst du davor nicht meiner vielen fragen noch red’ und antwort stehen? er reißt die augen auf im stöhnen der sonne mondlicht glänzt in diesem blick, bevor er, es für alle mal erlischt. sie deckt die augen zu mit ihren händen und fragt sich wieder, wieder, wieder: „sie oder ich?“, „sie oder ich?“, „sie oder ich?“. und wenn schon sie mit ihm, die liebe ihres lebens, durch ihre hand in dieser dunkelheit verging, dann kann sie gleich ihr leben löschen und deren, die all das verdarb. die flinte ist noch heiß, zu schad’ fürs korn, die nacht noch jung, und einer wilderei kann eine andere folgen, weil sie sich letzlich durch sich selber sühnt. |
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Februar 2021
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