Mein Beitrag für den FM4-Wortlaut 2014 dedicated to Michael Glawogger
Es begab sich in jenen Tagen da eine lachsrosa Tageszeitung, die deren sie verschlingende Bobos aufs Äußerste goutierten, in der Chronik „Haarige Schnitzel mit Schimmelpilzen“ titelte. Ein Aufschrei ging durch das Land, zumindest durch das Achtel im Osten und dort zumindest durch das Lager der fernreisedurstigen daheimgebliebenen Neubauer. Aber man glaubte es kaum, jener Artikel schlug so hohe Wellen wie sie die Malediven nur bei Tsunamis gesehen haben. Und schon bald erklang ein Ruf durchs ganze Land, in dessen Süden die Sonne schon vor geraumer Zeit vom Himmel gefallen war und dunkler Smog seither nicht nur dort den einst blauen und dann orangen Horizont schmierig überzog. Der Ruf gemahnte an andere, längst verflossene, aber nie vergessene und schon gar nicht vergangenheitsbewältige Zeiten: „Hol' uns hier raus!“ Ja, es gab viele, hatte viele gegeben, in dieser Insel von einem Land, die im Lauf einer mehr als tausendjährigen Geschichte diesem Ruf zu folgen vorgegeben hatten: wer erinnert sich nicht an die Großen aus Babenberg (die vielen namentlich nur mehr durch die samstagnächtlichen Tanz-Events in der gleichnamigen Passage am Ring bekannt waren); und jene von und zu Habsburg, die unsere Ahnen aus den engen, muffigen Stuben des Landes in die große weite Welt geführt hatten, bewaffnet und voller Zuversicht zum auserwählten Volk der künftigen Weltenherrscher zu gehören. Doch es bluteten nicht nur die Nasen, vielmehr floss das Blut aus allen Körperöffnungen und so mancher Skalp lag haarig im Staub. Aber nach dem furchtbaren Gemetzel bluteten auch jene, die besaßen. Sie, die Kriegsgewinnler, mussten sich von allem trennen und schworen Rache. Gemeinsam mit denen, die immer schon Dreck gefressen hatten, verschworen sie sich. Ja, sie schworen sich auf einen kleinen Braunen ein, einen Deutschen, der zufällig in Österreich geboren worden war und für den es vorerst hier zu nichts gereicht hatte. Aber das Schicksal war gnädig und so öffneten ihm die Verschworenen Tür und Tor. Er durfte ohne Widerstand passieren. Nach einer die massenhaft vereinfachten Gemüter des Volkes begeisternden Rede am Platz jener Helden, vornehmlich derer aus Habsburg, durfte er uns verteidigen und endlich zurückschießen. „Denn auf uns wurde mehr als genug geschissen in den Jahren davor.“ Er sollte der letzte gewesen sein für viele Jahrzehnte, ehe im Land ein neuer Stern, nein jene neue Sonne aufging, die nicht nur im Süden viel von sich reden machte, namentlich mit einer ordentlichen Beschäftigungspolitik für das Heer derer, die der Staat verwahrlosen hatte lassen. „Hol uns hier raus!“ „Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, der Wächter steht am Inn!“ Oder doch bloß an jener Furt an der Glan?“ Er hörte den Ruf. Er kam. Niemand wusste woher. Er kam an jenem Tag, da der Tagesspiegel in Berlin von einem Ereignis berichtete, das sich kurz davor im Naturkundemuseum in Potsdam abgespielt hatte. Der Museumskäfer war aktiv geworden. Besser gesagt seine Larve, eine Raupe. „Haarig und hungrig“ fraß sie sich durch das gesamte Museum, köpfte Hornissen, fraß Eichhörnchenfelle und Flamingofüße. Er kam von Norden her, jedenfalls über Deutschland. Von noch weiter nördlich, meinten Experten. Wenn der Tod schon ein Meister aus Deutschland ist, kann denn von dort auch Gutes kommen? Was zu bezweifeln war … Anfangs war er nur wenigen bekannt und zwar jenen, die den Autostopper kurz nach der Grenze aufgabelten und nach Linz mitnahmen. In Linz beginnt‘s – eine gar nicht so alte Weisheit aus einem nun schon wieder vergangenen als tausendjährig geplanten Reich. Aber warum alle Hoffnung fahren lassen? Er ließ sich am Platz vor dem alten Dom absetzen. Das, was von ihm in Erinnerung blieb, waren seine gelockten tiefblonden Haare und sein klarer, blauer Blick. „Wär' ich von Haar ich würd' mich locken.“ Harry, seit seinem dritten Lebensjahr vollends erblondet, pflegte das, was ihn ausmachte. Und wie es ihn ausmachte. Er sprach nicht viel, doch kaum einer, geschweige denn eine, konnte an ihm vorbeigehen ohne stehen zu bleiben, meist mit offenem Mund oder hängenden Lippen, die schon lange nach etwas hungerten, vornehmlich nach einem wie ihm. Viele wollten Haar sein, er war es. Seine Präsenz hatte etwas Gegenwärtiges, ja auch etwas Heilsames. Jeder, der ihm begegnete, begann zu wünschen, auch die, die ihr Leben schon längst dem wunschlosen Unglück preisgegeben hatten. Es war fast wie zur Kinderzeit als man die Tage bis zur Weihnacht zählte und Wunder in der punschgeschwängerten Luft lagen. Kaum war er einem ein wenig vertraut, war er auch schon wieder verschwunden. Dennoch ereignete sich so manch Wundervolles. So löste er eine komplizierte Beziehung in Schärding am Inn in Wohlgefallen auf, beide gingen ihrer Wege ohne aneinander Rache zu nehmen. Oder er ließ in Bischofshofen einen Schüler so auf die Bahngleise laufen, dass er rechtzeitig stolperte und der Zug donnernd an ihm vorbeifuhr, während er so da lag, aber nicht über ihn drüber. Statt in Stücken geborgen werden zu müssen, lief der Schüler im Schock zum nächsten Arzt, wo eine Bänderzerrung im Knie diagnostiziert und entsprechend behandelt wurde. Von nun an hatte der Bursche die Einser auch ohne die Hiebe seines Vaters gepachtet. Ebenso blieb durch ihn unentdeckt, dass ein Krankenpfleger den Wunsch der todkranken Hermine aus Hainburg an der Donau erfüllte und sie in überdosiertem Morphiumrausch ein happy end finden konnte. Auch blühten im Dezember die Primeln auf der Wiese hinter dem Schloss von Totzenbach. Noch vieles nahm durch ihn, in und nach seinem Beisein, einen anderen Lauf, obwohl es zuerst prekär, heikel, fatal, beängstigend, beunruhigend, verfänglich oder brenzlig, also ganz einfach haarig schien. In den Medien fand vorerst nur eine seiner Taten Niederschlag, wiewohl sie dort nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Ein wenig strammer Max aus Tirol hatte Zweifel am Wehrdienst. Da sein aber sehr wohl strammer Vater, Unteroffizier im Heer, durch seine ebenso strammen Leistungen schon vor der Zeit den für ihn höchstmöglichen Dienstrang erklommen hatte und sich Seargent (zu deutsch: Vizeleutnant) rufen ließ, hatte Max noch größere Zweifel, ein Zivi zu werden. Er trat seinen Dienst an. Vor der ersten Waffenübung aber desertierte er. Desertion war auch in kriegslosen Zeiten wie diesen ein schwerwiegender Tatbestand nach dem Militärstrafgesetz. Es drohte Haft zwischen sechs und sechzig Monaten. Sein Vater tobte, was Max allerdings weniger betraf als die Mutter, die ihre Schläge für den durch ihre Erziehung Missratenen kassierte. Ferner setzte der Vater sich für eine ausgeprägte Suchaktion seitens der Militärpolizei ein und versuchte die Gerichtsbarkeit zu beeinflussen, keine Milde walten zu lassen. Max begegnete Harry auf der Flucht vom Inn zur Etsch. Harry riet Max sich zu stellen, denn der zweite Absatz des Paragraphen neun MilStG (sprich: Mil-Es-Te-Ge) stellte Gnade in Aussicht. Und so geschah es. Maxens strammer Vater erlitt eine empfindliche Niederlage. Der in diesem Fall um nichts weniger stramme Sohn, der sich erstmals für seine Rechte und seine Bedürfnisse, also für sich selbst einsetzte, wurde begnadigt, die Strafe wegen unerlaubter Abwesenheit nur bedingt ausgesprochen. Ferner wurde er – zwar unehrenhaft (aber was bedeutet schon Ehre in unseren treulosen Zeiten) – aus dem Militärdienst entlassen. Er trat seinen Wehrersatzdienst an einem Pflegeheim der Innsbrucker Caritas an. Harry und Max waren von nun an beste Freunde. Sie saßen oft zusammen in den Szenelokalen der Innsbrucker Innenstadt und brüteten über Plänen für eine sonnigere Zukunft. Nicht null-achtfünfzehn sollte die sein – wie ein drittes Reich sie propagiert hatte, nein, sie sollte das ganze Land erfassen und zu dem machen, was ihm schon lange zustand: ein unzählbares Reich einer niemals mehr untergehenden Sonne. Hairy and strong. “No more listening the new told lies.” “No more wearing smells from labaratories.” “No more facing a dying nation of moving paper fantasy.” Und schon gar nicht: “Walking proudly in our winter coats.” „No more …” Vielmehr: „Life is around and in you!“ Yes! Von da an kam Bewegung in die Lande. Einige wenige als zuerst noch Gutmenschen titulierte fanden sich. Sie trieben es bunt und fantasierten without drugs but in fever. Doch die Bewegten bewegten. Sie gewannen vor allem Künstler für Ihre Pläne, es bildeten sich Aktionskomitees und alles lief auf einen großen Marsch auf die Hauptstadt hinaus. Wien wollte erobert werden und damit das Zentrum des Landes. Dort musste der Umsturz seinen Anfang nehmen. Man plante ein großes Open Air Konzert am Heldenplatz mit Ansprachen der Protagonisten der Bewegung, ein Lichtermeer der Hoffenden und Glaubenden, ein Lichtermeer der Entnebler und Entkalker, ein Lichtermeer der Lichtbringer und Lichtblicker. Während der Vorarbeiten formierte sich an der einen oder anderen Stelle im Land die Opposition der Enthaarten. Gefunden hatten die sich über ein Online-Forum des deutschen Wochenblattes Spiegel unter dem Titel „Wir machen uns mal frei – Haarige Fragen.“ Dort hatten sie sich zuerst bloß über Intimrasur und die schmerzloseste Form der Enthaarung aller möglicher und unmöglicher Körperstellen ausgetauscht. Dann aber kam die Sprache zunehmend auf die schmerzvollen Ereignisse im Nachbarland, aus dem sich dann auch immer mehr Poster an der Diskussion beteiligten. Ihr Schlachtruf lautete bald wie der Titel des Forums. Den Untertitel allerdings veränderten sie in „- von diesen haarigen Affen“. Doch der Widerstand kam in der blond-geblendeten Öffentlichkeit nie richtig an. Selbst die Natürlichsten unter den politisch Bewegten wurden innert Wochen ein weiteres Mal unterwandert. Zuerst war es die vatikanische Kirche des Landes gewesen. Diese hatte mit ihrer Mordsmentalität bereits andere Kaliber dahingerafft. Zu Beginn den gekreuzigten Heiland, in der Mitte die Ungläubigen aus dem Morgenland und am Ende die reifende Persönlichkeit. Nun schafften Harry und die Haarigen dieses Kunststück mit ganz anderen Mitteln aber ebensolcher Wirkung. Obwohl die Natürlichen zuerst mit den Enthaarten sympathisiert hatten, liefen sie in Scharen zu Harry und den Seinen über. Da war es um die Gegenwehr endgültig geschehen. Die Vorbereitungen auf den größten Event des Jahres waren schnell weit gediehen. Die Bühne sollte unter jenem geschichtsträchtigen Balkon der Neuen Burg Platz greifen – und sie griff. Als der Abend des besagten Tages kam, waren Max und Harry voller Euphorie, sie hatten Menschen aller Schichten, Klassen und Rassen in Bewegung gesetzt, sie mussten damit rechnen, dass der Platz des Platzes niemals reichen würde – und sie hatten in ihrer bis dahin gewachsenen Allmächtigkeit schon mal vorweg den Durchbruch verkündet. Den Durchbruch der Sonne. Nachdem die Massen von den Rhythmen der Musik und der Reden richtig heiß und ergriffen worden waren – schon seit 75 Jahren hatte es hier keine solche Bombenstimmung mehr gegeben -, betrat Harry jenen Balkon den vor vielen Jahrzehnten ein noch größerer Führer kleiner als er erklommen hatte und öffnete seine Lippen, an denen alle schon minutenlang hingen. Er hob an zu sprechen und die Worte, die seinen Stimmbändern entsprangen, erfüllten die Herzen der Hörenden mit so viel Freude, mit Jauchzen und Jubilieren wie sie die Welt schon lange nicht mehr ergriffen hatten. Es tönte kräftig und unüberhörbar: „Let the sun shine in“. Es war kaum zu begreifen. Jene, die wirklich guten Willens waren, konnten den ersten, winzigen, vereinzelten Sonnenstrahl sich durch die durch Jahre verdichtete Smogschicht Bahn brechen sehen, ein wenig dergestalt wie eines dieser Haare auf Harrys Kopf. In einer Wohnung, die in einem Haus nahe des Platzes lag, sprach Frau Zittel, die Wirtschafterin des verstorbenen Professor Schuster, zu Herta, dem Hausmädchen: „Frau Zittel Frau Zittel schrie er und lief ans Fenster. Sehen Sie den Heldenplatz, den ganzen Tag hört sie das Schreien vom Heldenplatz, den ganzen Tag, fortwährend fortwährend fortwährend Frau Zittel, das ist zum Verrücktwerden zum Verrücktwerden ist das Frau Zittel ich werd noch verrückt davon verrückt davon.“ Und wenig später: „Ich kann doch die Wohnung nicht aufgeben nur weil du dieses Geschrei vom Heldenplatz hörst.“ Und noch ein wenig später: „Das hieße ja, dass mich dieser Hitler zum zweitenmal aus meiner Wohnung verjagt.“ In diesem Moment verklangen plötzlich die Freude, das Jauchzen und Jubilieren im erschrockenen Schweigen der Massen, denen soeben erneut die Erlösung vorenthalten worden war. Der Himmel blieb dunkel. Es folgten die nächsten dark ages. Und sie dauern noch an. Keiner weiß davon zu berichten.
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Februar 2021
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