Es ist so weit. Alle Jahre wieder in der zweiten Oktoberhälfte, dann wenn der Abend eines klaren Herbsttages anbricht, stellt es sich ein: das lila Leuchten. Und es ist nicht nur draußen, weit außerhalb der Stadt zu sehen. Es ist, wenn man einen achtsamen Blick dafür hat, überall zu entdecken, auch mitten in der Großstadt.
Das erste Mal ist es mir vor mehr als 20 Jahren aufgefallen, als ich in den bewaldeten Hügeln im Norden meines Heimatlandes meine Herbstferien verbracht habe. Ich bin mit meinen Töchtern bei einer Freundin meiner Frau, die ebenfalls eine Tochter hatte, zu Besuch gewesen. Sie hat für uns ein feines Quartier zurecht gemacht, das kleine Bauernhäuschen ihrer Eltern, das sein zweites Leben als Touristenunterkunft erhalten hatte. Es ist beschaulich am Rand des Waldes gelegen, abseits einer Forststraße, die kaum befahren gewesen ist. Als ich es am Nachmittag unseres ersten Ferientages in der letzten Oktoberwoche jenes Jahres erstmals zu Gesicht bekommen habe, habe ich den heiligen Schauer und die Verheißung, endlich zu Hause angekommen zu sein, verspürt. Ich habe ihn erst einige Wochen später, als ich mein Leben in der Hauptstadt wieder aufgenommen hatte, richtig deuten können. Die Sehnsucht nach diesem Haus, nach diesem Wald, nach diesen Tagen und nach ihr, die mich seither zumindest einmal im Jahr befällt, ist bis heute lebendiger Ausdruck dieses beeindruckenden Gefühls. Nun waren wir also im Haus angekommen und Melina hat mir die Schlüssel mit einem kecken “Fühlt euch wie zuhause” übergeben. Ihr Blick hatte die eine Sekunde länger gedauert als es belanglose Blicke zu tun pflegen. Damit ist dieser Moment zu einem besonderen Augenblick geworden - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben uns für einen Spaziergang eine Stunde später verabredet, der dann töchterbedingt, später als geplant, schon in der Dämmerung dieses Tages stattgefunden hat. Er hat uns nur ein kurzes Stück in den Wald geführt, der in dieser Gegend sehr dicht steht, so dicht, dass es meinen Kleinen bald bange geworden ist an jenem Abend. Wir haben unseren Ausflug also sehr bald beendet und uns von Melina und Tochter kurz nach dem Zusammentreffen gleich wieder verabschiedet. Diesmal ist es ihr Händedruck gewesen, der mich noch bewegt hat, als die Mädchen schon im Bett gelegen sind. Er ist mir sehr vertraulich, ja auch vertraut vorgekommen obwohl wir uns doch vorher nur oberflächlich begegnet waren. Meine Frau und Melina hatten einander kennengelernt als auch Melina noch in der Hauptstadt gelebt hatte. Von da an waren die beiden hie und da miteinander unterwegs gewesen, und wir beide hatten uns nur in den wenigen Momenten gesehen, als Melina meine Frau von unserer Wohnung abgeholt hatte. Einmal oder zweimal waren wir gemeinsam mit unseren Töchtern in einem nahen Park gewesen, aber da hatte ich bereitwillig den Kinderdienst übernommen und die beiden Freundinnen hatten das Leben bequatscht. In der völligen Stille des Häuschens, in der ich sogar das Atmen meiner Töchter im Nebenzimmer hören habe können, fernab der alltäglichen Hauptabendprogrammroutine meines großstädtischen Zuhauses, habe ich versucht, dem Sinn dieses Händedrucks nachzugehen. Ich habe mich an dessen Wärme erinnert, ich habe ihn mit anderen Händedrücken zu vergleichen begonnen, ich habe mich trotz aller Bemühungen nicht mehr daran erinnern können, dass meine Frau und ich jemals einen Händedruck gewechselt hätten - und wenn doch, dann sicher keinen solchen. Ich habe mich in diesen Stunden im Fluss meiner Gedanken immer weiter von dort entfernt, wo ich erst wenige Jahre vorher Wurzeln zu schlagen beschlossen hatte. Ich habe zu träumen begonnen, was aus Melina und mir werden könnte, wenn ich diesen Händedruck ernster nähme als er womöglich gedacht war. Erst als meine jüngere Tochter mich mit ihrem albtraumerschreckten Schreien in die Gegenwart zurückgeholt hatte, habe ich wieder auf die Uhr geblickt. Es ist schon weit nach Mitternacht gewesen. Es ist also höchste Zeit geworden, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, um am schon begonnenen Tag einen guten, entspannten Vater abzugeben. Außerdem ist für den nächsten Nachmittag der Besuch einer Vernissage in einem nahe gelegenen Schloss am Programm gestanden, der in Begleitung meiner Töchter sicher auch die eine oder andere Herausforderung zu bieten hatte. Die Nacht ist traumerfüllt und schnell vergangen und ich bin mit dem Gefühl des zeitlosen Jetzt erwacht, das keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, nur diesen Augenblick. Verschwebendes Schweigen als ich ins Innere des Häuschens lauschte, ebensolches als ich’s durchs geschlossene Fenster nach draußen hindurchhorchte. Aber der Tag ist schon angebrochen gewesen, das grelle Licht der Sonne, die schon durch die Vorhänge ins Haus hinein geschienen hat und vor deren Helligkeit ich die Augen zukneifen musste, hat dies eindrucksvoll bezeugt. Nach einer kalten Dusche, die auf meiner Nachlässigkeit beruht hat, dass ich ob meiner Tagträume am Vorabend den Heißwasserspeicher nicht eingeschaltet hatte, hat der Tag schnell an Fahrt aufgenommen. Am Vormittag sind Melina und Tochter plötzlich vor unserem Haustor gestanden. Wir hatten uns eigentlich erst für den Nachmittag verabredet gehabt, um die Ausstellung im Schloss zu besuchen, daher bin ich überrascht gewesen. Es ist aber eine angenehme Überraschung gewesen, die allerdings schnell verflogen ist, als Melina angespannt den Wunsch geäußert hat, ich möge mich um ihre Tochter kümmern da sie noch einen wichtigen Weg zu erledigen hätte. Als Melina auch gegen Mittag noch nicht zurück gewesen ist, habe ich schon mal für die Mädchen und mich Spaghetti gekocht. Ich habe sogar eine Portion mehr gemacht, falls Melina nach ihrem wichtigen Weg hungrig ins Häuschen zurückkehren würde. Bloß gekommen ist sie nicht. Also habe ich den Mädchen auf dem Sofa in der Wohnküche eine Mittagspause verordnet, die sie nur leidlich angenommen haben. Immer wieder habe ich die drei zur Ruhe mahnen müssen, während ich im Schaukelstuhl vor dem Kachelofen meinen sorgenvollen Gedanken nachgehangen bin, wo Melina denn um alles in der Welt solange bliebe. Und dann hat es plötzlich an der Türe geklopft und die Mädchen sind sofort drauf los gestürzt, um der endlich zurückgekehrten Melina zu öffnen. Sie hat sehr mitgenommen ausgesehen, als sie ins Häuschen getreten ist, hat aber kein Wort über das in den letzten Stunden Erlebte verloren. Ihre Tochter hat mir dann mit ihrer Frage nach ihrem Vater einen Hinweis gegeben, so Melina die letzte Zeit verbracht haben könnte. Weder hat sie die für sie aufgehobenen Nudeln essen noch einen Kaffee trinken wollen, vielmehr hat sie ihre Tochter schnell angezogen und ist stante pede aufgebrochen. Kein Händedruck, kein weiterer Augenblick, ich bin verloren im Vorraum gestanden, von einem unbestimmten Schmerz erfüllt. Meine Töchter aber haben mich rasch wieder in den Alltag geholt. Die Fahrt zum Wasserschloss im Nachbarort wenige Stunden später in Melinas Wagen ist dann großteils schweigend verlaufen, also zumindest was uns Erwachsene betroffen hat. Die Mädchen haben sich auf der Rückbank des Wagens köstlich amüsiert und sind auch während der Vernissage noch recht überdreht gewesen. Dort angkommen sind wir den Bildern gefolgt, haben einen Raum nach dem anderen begangen, und haben mit den Kindern mehr zu tun gehabt als uns lieb gewesen wäre. Die Bilder jener Künstlerin, deretwegen ich mich schon so auf diesen Nachmittag gefreut hatte, haben nur Schatten geworfen, aber keinen lebendigen Eindruck hinterlassen. Irgendwie ist über alldem auch Melinas Stimmung gelegen, die ich nicht deuten habe können und zu der sie mir auch keinen Zugang verschafft hat. Auf der Rückfahrt dann, in der Dämmerung dieses klaren Spätoktobertages, sind wir direkt in einen beeindruckenden Sonnenuntergang hineingefahren. Die dunklen Wipfel der Wälder haben sich an einem tiefblauen Horizont abgezeichnet. Ein paar Schleierwolken haben die orangerote Sonne beim Untergehen begleitet. Als die Sonne am Ende der Ebene zu verschwinden begonnen hat, hat sich das Rot ihrer letzten Strahlen mit dem Blau des Himmels vereint und mir zum ersten Mal in meinem Leben das lila Leuchten beschert. Auch Melina ist von diesem plötzlichen Farbwechsel am Himmel aus ihren Gedanken erwacht und hat das Auto an den Fahrbahnrand gefahren. Wir beide sind unter dem Protestgeschrei unserer Töchter aus dem Auto gestiegen und haben uns das beeindruckende Schauspiel da draußen angeschaut. Als wir beide so auf der Kühlerhaube des Pkws gesessen sind, hat Melina plötzlich meine Hand genommen und leise und bedächtig vor sich hingemurmelt, dass das Leben doch schön wäre. Ich habe zu ihr hingeblickt, während sie immer noch meine Hand gehalten hat. Sie aber ist in seltsamer Übereinstimmung mit diesem Augenblick ins Lila des Abendhimmels versunken gewesen. Nun stehe ich hier am Fenster meiner Wohnung am westlichen Großstadtrand. Heute, in dieser Dämmerung Anfang November ist es - wie schon so oft seit jener Zeit - zurückgekehrt das lila Leuchten des Abendhimmels. Es entführt mich auch diesmal zu jenem Augenblick mit Melina am Straßenrand auf unserem Heimweg vor vielen Jahren. Es weckt auch heute wieder diese Geborgenheit des Zuhauseseins in Melinas Häuschen, das Einssein mit mir und der Welt, das ich damals zum ersten Mal so deutlich empfunden habe. Melina habe ich nach diesem Moment in den ersten Jahren noch das eine oder andere Mal gesehen, meist in Begleitung jenes Mannes, des Vaters ihrer Tochter für den sie damals ihren mir noch immer unbekannten Weg auf sich genommen hatte. Seit meine Töchter erwachsen geworden sind und ich von meiner Frau getrennt lebe, habe ich die Wälder des Nordens nie mehr besucht. Ich habe diesen Augenblick, der mir für immer gegenwärtig sein wird, niemals aufzuscheuchen versucht: Das Zuhause in den waldigen Hügeln im Norden und Melina mit ihrem sanften, lange währenden Händedruck und ihren Worten beim Blick ins und unserem gemeinsamen Sein im Lila jenes Abendhimmels.
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