Immer schon hatte er sich gewünscht, den Weihnachtsabend am Strand zu verbringen, dabei eher an den Süden gedacht und an die milde, würzige Luft des Meeres und an einen Spaziergang in leichter, lockerer Bekleidung.
Nun schlenderte er am Ufer dieses großen Sees entlang, in der Nähe seines Mökkis im Südwesten Finnlands. Dieses kannte er von seinen Sommeraufenthalten bestens, hatte seinen warmen Nordpol-Stiefel aus seiner Heimat an und war in seine Icepeak-Jacke eingepackt, zusätzlich einen wärmenden Schal um Hals und Mund geschlungen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, so dass nur ein schmaler Schlitz für die Augen übrig blieb. Sehen konnte er ohnehin kaum etwas in dieser nördlichen Dunkelheit, die derzeit fast den ganzen Tag anhielt, obwohl die Wintersonnenwende schon wieder einige Tage zurücklag. Kalt und sternenklar lag diese noch mondlose Nacht um ihn, der wenige Schnee, der Anfang des Monats gefallen war, war längst wieder geschmolzen. So spazierte er also langsam und gemächlich, bloß seine eigenen Schritte und von Zeit zu Zeit das Brechen kleinerer Wellen des Sees hörend, der in der Windstille fast glatt da lag, blieb immer wieder stehen um in das Schwarz, das ihn umgab, zu blicken oder um am Nachthimmel die ihm vertrauten Sternbilder zu entdecken. In seiner Tasche hatte er eine Thermoskanne randvoll mit heißem Glögi, ebenso zwei Stück Roggenbrötchen, ein paar von den von ihm selbst frischgebackenen Weihnachtssternen und eine Aludecke für das geplante Picknick. Sein Kopf war in der klaren Winternachtluft voll mit Gedanken und vor allem Erinnerungen an die Weihnachtsabende seines nun schon mehr als vier Jahrzehnte währenden Lebens. Da gab es diese und jene, aber einen solchen wie heute, den hatte es noch nie gegeben. Er hielt ein weiteres Mal, atmete tief durch und schaltete die Stirnlampe ein, um sein mitgebrachtes Strandpicknick zu genießen. Er suchte das sandige Ufer nach einer passenden Stelle zum Sitzen ab und als er sie gefunden hatte, machte er es sich bequem. Wenig später saß er, mit nun wieder ausgeknipster Stirnlampe da, und genoss die mitgebrachten Köstlichkeiten. Der heiße Glögi dampfte und mit jedem Schluck füllte sich seine Körpermitte mit wohliger Wärme, die nach und nach auch die Gliedmaßen erreichte und schließlich auch seine Wangen erhitzte. Er hatte, um der Kälte vorzubeugen, auch einen Schuss Wodka dazugemischt, was sich jetzt eindrucksvoll bewährte. Der See lag immer noch fast glatt da, die eine oder andere Welle brach sich in unregelmäßigen Abständen am Ufer und die Nacht lag still um ihn. In der Ferne sah man von Zeit zu Zeit das Aufblitzen von Scheinwerfern oder Rücklichtern von auf der Uferstraße fahrenden Autos. Die Welt nahm auch heute ihren Lauf, obwohl doch mit diesem Fest eine Unmenge an Hoffnungen verbunden war, die regelmäßig enttäuscht wurden. Immer wieder hatte er erfahren wie sein Leben vor den Weihnachtsfeiertagen plötzlich an Fahrt aufgenommen hatte, als wäre ein stürmischer Nordwest plötzlich und unerwartet in die Segel seiner Jolle gefahren. Dann hatte er alle Hände voll zu tun, um der neuen Wetterlage Herr zu werden. Diese Dynamik war dann regelmäßig in der Nacht der Nächte zu Ende gegangen, meist mit einem unbefriedigenden Gefühl für ihn. Egal in welche Lebensverhältnisse es ihn verschlagen hatte, irgendetwas stimmte mit diesem Fest nicht - oder mit ihm und seinem Verhältnis dazu. Daraus war auch sein regelmäßiges Sehnen entstanden, den Heiligen Abend am Meer zu verbringen, weit fort von seinem alltäglichen Leben, geborgen in der Ferne mit dem freien Blick auf den Horizont und allein, um endlich eins zu werden mit dem Leben, seinem Leben. Er wollte endlich geboren werden, zu dem werden, was er war, aber immer noch nicht entdeckt hatte. Regelmäßig aber war er abgelenkt worden, hatte sich vielleicht auch ablenken lasse, es hatte immer dann, wenn er gerade das Gefühl hatte, der Durchbruch ins Sein stehe grade bevor, einen Umschwung in seinem Umfeld gegeben, der ihn zum Kurswechsel gezwungen hatte. Die Gründe dafür waren mittlerweile unzählige und die Zeit schien ihm davonzulaufen. Das spürte er jetzt hier am dunklen Seeufer ganz deutlich. Er nahm es wohl auch deswegen so intensiv wahr, weil er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich allein war. Kein Mensch, der mit ihm mitgekommen war, um im Mökki die Feiertage mit ihm zu verbringen, auch kein Mobiltelefon, das ihn stören konnte, weil er es einfach abgestellt hatte. In diesem Moment packte er schnell seine Sachen, stand auf und begann weiter zu gehen. Nach einigen Schritten fiel ihm auf, dass er sein Tempo wesentlich beschleunigt hatte, fast so als wäre er in Eile oder auf der Flucht. Er blieb stehen und lächelte. Es gab keinen Grund wegzulaufen. Es gab vielmehr allen Grund jetzt bei sich zu bleiben und auf das zu horchen, was da in den letzten Wochen in ihm heranzuwachsen begonnen hatte. Langsam schlenderte er weiter, in sich und seinen Gedanken versunken, als er sich in etwas verfing, das da am Strand lag. Da er seine Füße nicht befreien konnte, schaltete er die Stirnlampe ein. Er hatte sich offensichtlich in einem dünnen, grünen Bootstau verheddert. Da er die Leine um seine Knöchel nicht loswurde, legte er die Tasche ab und setzte sich in den kalten Sand. Nach und nach gelang es ihm das eine Ende der Schnur, in das er sich verwickelt hatte, loszuwerden. Das andere Ende lag in der Dunkelheit, er konnte es nicht erkennen. Da der Schein seiner Stirnlampe nicht so weit reichte, zog er am Tau bis ein kleiner, rosafarbener am Seil befestigter Styroporquader in Sicht kam. Er schleifte das Ding zu sich heran und nahm es in die Hände. Auf den Quader war mit blauem Filzstift eine Telefonnummer drauf geschrieben. Er untersuchte das federleichte Stück Styropor auf andere Merkmale, konnte aber sonst keine entdecken. Sofort nachdem er die Telefonnummer entdeckt hatte, begann er in seinen Gedanken zu fantasieren. Da fielen ihm die banalsten und die wildesten Geschichten ein, jedenfalls war er mit einem Mal wieder herauskatapultiert aus seiner Welt und gefangen genommen von den Aussichten, die dieser Eintrag ermöglichte. Es waren viele Leben, die ihm durch den Kopf spukten, er wusste nicht, welcher Spur er folgen sollte, er ließ sich dahintreiben und bemerkte gar nicht, dass vor wenigen Minuten der Mond aufgegangen war und den See und die ganze ihn umgebende Landschaft in ein wahrlich gespenstisches Licht tauchte. Viele Minuten, ja sogar Stunden zogen dahin, ehe er der wieder Umgebung und seiner Existenz gewahr wurde. Er stand da am Ufer des Sees, erhitzt von seinen Gedanken und der Kälte trotzend, die Stirnlampe war längst erloschen. Der nahezu volle Mond machte nunmehr alles ganz hell. Er griff in seine Tasche und suchte nach seinem Mobiltelefon, das er für den Notfall mitgenommen hatte. Und um einen Notfall könnte es sich ja auch handeln bei dieser Botschaft, die aus einer Telefonnummer bestand, auf diesem Stück rosa Styropor. Hastig schaltete er das Handy ein, tippte den PIN in die Tastatur und wählte die Nummer. Er musste gar kein Freizeichen abwarten, denn sofort meldete sich eine tiefe, beruhigende aber dennoch seltsam anregende Frauenstimme, die von einladender Musik im Hintergrund begleitet wurde. Er hörte: “Hyvää Joulu-iltaa, sinullekin, yksinäinen mies kylmässä Joulu-yössä, täältä löydät lämpöä, rakkautta ja seksiä. Eikä se maksa kuin 6,66 euroa minuutissa, paina ykköstä ja puhu Tanjan kanssa, paina kakkosta ja Jenni viihdyttää sinua vaikka loppuillan tai paina kolmosta, niin pääset juttelemaan Annelin kanssa. On siis valinnan varaa ... “ , drückte die 3 und überließ sich dem Leben, ließ kommen, was da kommen wollte.
2 Comments
Michael Karjalainen-Dräger
22/3/2016 19:50:09
Danke für dieses wunderbare Feedback!
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