Mein Siegertext für den Schreibwettbewerb 2020, ausgeschrieben von der Stadtbücherei & Mediathek Krems unter dem Motto: "Schreiben in den Zeiten der Cholera": Er schaute sich in die Augen, fand sie rotgeädert, blickte weiter zu den grauen Ringen unter ihnen, den Falten, die aus ihren Winkeln sprossen, mehr als er in Erinnerung hatte, sah sein Gesicht blass und gealtert von der Schlaflosigkeit vieler Nächte und der verlorenen Zuversicht. Er fühlte sich fiebrig, in seinen Gliedmaßen tobte ein brennendes Ziehen, das ihm Sorgen bereitete. Sein In-den-Spiegel-Blicken erinnerte ihn an seinen Großvater, der Morgen für Morgen am Waschbecken in der Küche seiner Garconniere stehend, die er mit seiner Frau bewohnt hatte, einen prüfenden Blick in seine Augen geworfen und sie auf diese Weise auf den Gelbschimmer als Anzeichen einer befürchteten Hepatitis überprüft hatte. Er musste raus. Raus! Einfach raus! Seufzend rieb er sich Farbe auf die Wangen und wechselte aus dem Morgenmantel in sommerliche Kleidung, war die Temperatur doch am Beginn dieses Tages schon auf über 20 Grad geklettert. Er betrat den Garten, ließ sich vom leichten Lufthauch eines sanften Nordwest zu seinem Fahrrad tragen, hielt kurz inne, um den Duft des frisch gemähten Grases von einem der Nachbargrundstücke einzuatmen und auf sich und sein Gemüt wirken zu lassen und öffnete dann das Hoftor, um sich auf den Weg zum Supermarkt zu machen, wo er das Nötigste für die nächsten Tage besorgen wollte. Er mühte sich auf sein Rad, steckte einen der beiden Kopfhörer seiner Freisprecheinrichtung, die ihn mit seinem Mobiltelefon verband, ins linke Ohr, um durch die Begleitung der Morgensendung des Regionalradios den zu erwartenden Straßenlärm zu dämpfen und erinnerte sich an jene – manchmal heiteren, meist aber besorgten – Aussagen seiner langjährigen Lebensgefährtin, mit denen sie ihm zu sagen versuchte, dass er chamäleongleich zwischen einem jungen, athletischen und leichtfüßigen Mann und einem sich durchs Leben schleppenden, deprimierten und erschöpften Alten switchen konnte – und das innerhalb von Minuten. Heute fühlte er sich wie zweiterer, dessen Ende zeitnah bevorstünde. Auf dem Weg zum Einkaufszentrum überholte ihn ein LKW mit rumänischem Kennzeichen – wie schon so oft, ein toter Igel lag mitten auf der Fahrbahn – wie schon so oft, eine Mutter mit ihrem Kleinkind drängte sich auf dem viel zu schmalen Gehsteig an die Hausmauern, um sich in Sicherheit vor dem heftig und schnell vorbeirauschenden Straßenverkehr in diesem vermaledeiten 2000-Seelen-Ort zu wissen – wie schon so oft, in den Nachrichten, die durch den Kopfhörer aus seinem Handy in sein Ohr drangen, wurden die aktuellen Zahlen der Covid-19-Infizierten verlesen – wie schon so oft, und nochmals dringend zur Einhaltung der zur Bekämpfung der aktuell herrschenden Pandemie notwendigen Hygiene- und Sicherheitsmaßnahmen aufgerufen – wie schon so oft in letzter Zeit, da eine zweite Infektionswelle nur dadurch zu verhindern wäre. Über ihm am Himmel zogen die Flugzeuge vorbei, im nicht bekopfhörerten Ohr nahm er in den Fluglärmpausen das Verkehrsrauschen der nahen Schnellstraße wahr. Wenige Meter nachdem er in die dichtbefahrene Straße zum Einkaufszentrum eingebogen war, sah er in noch einiger Entfernung etwas rechts von der Mitte seines Fahrstreifens liegen. Er dachte sofort an eine Katze, im Näherkommen wurde es immer klarer, dass es sich um einen Hasen handelte. Er fuhr langsamer, wurde dabei immer wieder von Fahrzeugen überholt, richtete einen Blick auf den übel zugerichteten Kadaver, der plattgedrückt, mit aus dem Körper hängenden Eingeweiden, blutverschmiert und mit nur noch einer Pfote da auf dem Asphalt lag. Die Autos polterten mit ihren gedankenverlorenen Fahrern mal knapp an dem getöteten Tier vorbei, mal direkt über es drüber. Ihm grauste. Leichen pflastern meinen Weg, dachte er, in regelmäßigen Abständen hatte er Zeit seines Lebens diese Erfahrung machen müssen, der Tote, den die Feuerwehr vor seinen Augen von den U-Bahngleisen der Hauptstadt, in der er den Großteil seines Lebens verbracht hatte, geholt hatte, die bereits abgedeckte Leiche auf einem Gehsteig ebendort, umgefahren von einem Autofahrer, der die Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte, die an ein Unglück erinnernde Kreidezeichnung auf der Straße an einer Kreuzung im benachbarten Ort und die Gliedmaßen sowie der Torso auf der Bahnstrecke zwischen seiner nunmehrigen Heimat und der Stadt, aus der er vor Jahren geflüchtet war und die er nur noch besuchte, wenn ihn die Sehnsucht nach jenem Café packte, in dem er so viele Stunden seines bisherigen Lebens schreibend verbracht hatte. Schreibend. Was ihm so viele Stunden, Wochen, Monate, ja sogar Jahre zum Segen gereicht hatte, was ihn entlastet hatte, was ihm die Lebenskraft zurück gebracht hatte, die lautlosen Schreie seiner Seele zum Ausdruck bringen hatte lassen, war schon vor geraumer Zeit versiegt. Er fand keine Worte mehr oder nicht die passenden – und ständig hatte er das Gefühl, dass alles, was da in ihm schrie und geschrieben werden wollte, eine einzige Anklage war, eine Ausgeburt seiner verqueren Moral, den Menschen sagen zu müssen, was richtig und was falsch wäre. Er konnte nicht mehr frei und befreit schreiben, zu sehr war er in den Strudel dieser kolportierten Katastrophe geraten, die die Menschheit mittlerweile über den gesamten Erdball lähmte, die ein Leben in Würde und Unabhängigkeit stündlich, wenn in den Nachrichten die aktuellen Zahlen der Neuinfizierten verkündet wurden, konterkarierte. Ein lautes Hupen schreckte ihn aus seinen Gedanken, er kam mit seinem Fahrrad ins Trudeln und musste abbremsen, fuhr zum Fahrbahnrand, stieg ab, packte die Kopfhörer weg und schob, von einer plötzlichen Unlust gepackt ohne seine Besorgungen erledigt zu haben, seinen Drahtesel wieder Richtung Zuhause. Diesmal nahm er die Schotterstraße durch den nahen Auwald, seine anfangs rasenden Schritte verlangsamten sich von Augenblick zu Augenblick, bis sie schließlich ihre Dynamik ganz verloren und er zum Stehen kam. Der Ruf einer Elster holte ihn von innen nach außen. Da lagen der Wald, der Weg, die Wiesen und Felder, ja selbst die Hallen und Gebäude des angrenzenden Gewerbegebiets in stoischer gleichwährender Ruhe, so als sei nichts geschehen. Keine Aufregung war spürbar, kein durch die aktuelle Situation gehetztes Hin und Her, kein … ja, rein gar nichts war anders in diesem Außen als zu jeder anderen Zeit, an der er hier, an dieser Stelle Halt gemacht hatte. Was sich gravierend verändert hatte, war sein Innenleben. Er war zerrissen zwischen einem Sehnen nach einem Leben im Gleichklang mit der Natur, dem Natürlichen, einer Existenz, die ihm ermöglichte, das zu tun, was ihn ausmachte und den von Jahr zu Jahr größer werdenden Anforderungen, sein Dasein nicht mehr auf Pump führen zu können, sich daher gezwungen zu fühlen, verstärkt diesem oder jenem Gelegenheitsjob nachzugehen, um existieren, ja um überleben zu können. Der Alte hatte nach und nach die Oberhand gewonnen, was ihm zwar zur Entschuldigung sich selbst gegenüber gereichte, ihm aber nach und nach auch sein eigentliches Wesen raubte. Als er so da stand, immer tiefer in den Wald hineinhorchte, wodurch die unnatürliche Geräusche der in allen Himmelsrichtungen liegenden Verkehrswege langsam verklangen, erinnerte er sich an die Stille und den Stillstand vieler bereits vergangener Tage in der jüngeren Vergangenheit, die eine Hoffnung in ihm hatte keimen lassen, dass alles anders, alles wirklich gut werden könnte. Kaum ein Auto auf den Straßen, kein Fluglärm vom Himmel, eine neue Häuslichkeit, die vielen ausgezeichnet stand, so manchen aber auch ins unsägliche Verderben innerer Höllen führte, in die er seine Umgebung gnadenlos mit sich hinabzog. Höllen, die sich auch im Außen, in den Lebensmittelläden bemerkbar machten, in denen Angst zu Gier wurde und Lebenswille zum Überlebenskampf. Die Zeit war lange schon reif für diese Wende, für eine Wendung, die den Menschen wirklich menschlich machte. Er hatte daran geglaubt, je länger der von der Regierung verordnetet Shutdow gedauert hatte, desto größer wurde seine Zuversicht, dass er alsbald davon leben könnte, was er für seines hielt, was er für richtig hielt. Wenn er es recht bedachte, hatte sich in diesen Glauben sehr bald schon ein schaler Beigeschmack gemischt, eine Bitternis, die er anfangs nicht wahrnehmen hatte wollen, die ihm aber letztlich auch das Schreiben vergällt hatte. Wollte er wirklich zum Moralisten werden, er der es – aus seiner Sicht - so gar nicht mit der Moral hatte, ein Erich Kästner der Gegenwart, ein Analyst des Ganges vor die Hunde? Ja! Er hatte sich in den ersten Wochen darin gefallen, es allen, der ganzen Menschheit mal so richtig rein zu sagen, hatte geschrieben, was das Zeug gehalten hatte, hatte geschrien, was er denen da, die diese Welt so verkommen hatten lassen, schon immer vor den Latz knallen hatte wollen. Und plötzlich war diese Wut versiegt, die ihn so mutig, ja übermütig gemacht hatte. Und mit einem Mal verstummte seine Tastatur, sein Schreiben hatte ein jähes Ende gefunden, sogar das auf diese Weise Entstandene musste fortan geschmäht werden, es war in den Tiefen virtueller und realer Papierkörbe verschwunden, war gelöscht oder gehäkselt worden. Doch an diesem jähen Ende, seiner Moralisierung gegen die Moral drohte er nun zu verzweifeln. Er stand lange so da am Waldrand und lauschte der Stille in all dem ihn auf der anderen Seite umgebenden Trubel, nahm diese Ruhe mit nach innen und erwachte erst im Sonnenuntergang, der ihm den Weg in seine Heimat wies. Nachts schlief er zwar von da an immer noch kaum, er wälzte sich jedoch nicht mehr schlaflose Stunde um schlaflose Stunde im Fegefeuer seiner Gedanken, sondern er gab ihnen Stimme, ließ sie im Klappern seines Keyboards aus der Wirklichkeit ins Phantastische gleiten und wieder zurück. Als er eines Tages, der Herbst war bereits ins Land gezogen und er hatte sich morgens mit einem Becher Kaffee im Garten stehend von der milden Sonne die Kälte der Nacht aus den Gliedern wärmen lassen, als er also dieses Tages bei einer weiteren Fahrt mit seinem Fahrrad zum Einkaufszentrum wieder dort vorbeikam, wo jener Hase seinen Tod gefunden hatte, erinnerte nur noch ein dunkler Fleck auf dem Asphalt an dieses Geschehen und an die Tatsache, dass Menschen sich vor Jahr und Tag unbedacht und mit Gewalt der Natur bemächtigt hatten und nun die Konsequenzen ihres Handelns tragen mussten.
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Februar 2021
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