Da stehe ich nun, zum ersten Mal nach langer Zeit im Zimmer meines Vaters und habe immer noch das schlechte Gewissen, das mich jedesmal befallen hat, wenn ich mich ohne seine Erlaubnis in diesen für ihn heiligen Raum gewagt habe. Auch wenn ich in meiner Kindheit versucht hätte, seine Zustimmung zu meinen Entdeckungsreisen durch seine Lande zu bekommen, ich wäre jedesmal gescheitert. An das Seine hat er niemanden herangelassen. Selbst meine Mutter, die dort für ihn sauber machen hat müssen, hat jedesmal die Bürde dieser ihr von ihm auferlegten Aufgabe zu spüren bekommen. Auf diese Weise hat sie sich jedes Mal auch der Gefahr aussetzen müssen, dass er etwas auszusetzen hatte, weil sein Fauteuil zu weit rechts stand, seine Brille an der falschen Schreibtischseite lag oder Unterlagen unauffindbar waren, die er doch ganz bestimmt an diese oder jene Stelle gelegt hatte.
Ich habe also auch jetzt seine Erlaubnis nicht, spüre das Aufkeimen dieses schlechten Gewissens, es beginnt wie dazumal mit dieser Anspannung in der Bauchdecke, steigt dann mit einem Kribbeln in die Magengegend, nimmt mir den freien Atem und würgt mich an der Kehle, ehe es sich als Hitze in Wangen, Ohren und Stirn festsetzt und dort noch länger bleibt als die Tat dauert, die ich begangen habe. Alles ist immer am gleichen Platz wie in den Jahren meiner Kindheit, obwohl alles doch so anders geworden ist. Sein Fauteuil ist einem Lehnstuhl gewichen, der auch eine Fußstütze hat. Sein Schreibtisch ist nicht mehr der Teil des Esstisches sondern ein kleiner Sekretär, der dort steht. Dafür ist der Esstisch gewichen und in die andere Hälfte des Wohnzimmers übersiedelt, dort wo früher die Couch und der Sofatisch standen. Am Schreibtisch selbst liegt alles in gewohnter Ordnung, auch seine Schreibmaschine steht da, einen Bogen Papier eingespannt, so als wäre er nur eine Runde ums Haus unterwegs um kurz nachzudenken, wie er seinen Einfall am besten aufs Papier bringen könnte. Ich tippe gedankenverloren ein “P”, sofort zuckt der Zeigefinger meiner rechten Hand zurück, ich blicke über die linke Schulter nach hinten, die Hitze ist längst auf der Stirn angekommen. Schnell bereinige ich meinen Fauxpas mit der Korrekturtaste. Da fällt mein Blick auf ein Kuvert mit meinem Namen. Unsere letzte, rein zufällige Begegnung fällt mir ein. Das war erst vor wenigen Wochen gewesen, da sah ich ihn im Schlepptau meiner Mutter durch die Einkaufsstraße schlurfen. Er wirkte wie ihr Hündchen, sein Marionettendasein war mir noch nie so offensichtlich geworden wie in diesem Augenblick. Einerseits hatte sie sich zeit meines Lebens regelmäßig bei mir über ihn beschwert, über seine Art, seinen Zigaretten- und Alkoholkonsum, seinen Umgang mit ihr, seine Lieblosigkeit und seine Wutanfälle. Andererseits hatte sie ihn jedesmal für dieselben Eigenarten vor anderen verteidigt und alle um Verständnis ersucht. Jedenfalls wollte sie ihr Leben in der Öffentlichkeit als ein ihm geopfertes darstellen - und doch ahnte ich, dass sie äußerst subtil mit ihrer Macht über ihn spielte und mich und die anderen damit gnadenlos manipulierte. Doch ich traute schon damals meinen Gefühlen nicht oder nicht mehr. Ich nehme das Kuvert an mich, wende es. Es ist zugeklebt. Ich möchte es umgehend aufreißen, da er doch nicht mehr ist. Nach einem kurzen Zögern lege es wieder an seinen Platz zurück. Ich verlasse mein Elternhaus, schlage die Tür zum letzten Mal mit solcher Wucht hinter mir zu, dass die Nachbarin, die mir die Wohnung aufgesperrt hat und davor wartet, richtiggehend zusammenzuckt, murmle ihre eine Verabschiedung zu und laufe den Atem anhaltend die fünf Treppen so schnell ich kann abwärts. Auf der Straße empfängt mich an diesem Oktobertag frühlingshaft warme Sonne. Mein erster Atemzug ...
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dem Wiener Bücherschmaus zum 1. Geburtstag gewidmet Ich kenne da einen Laden an einer Dreistraßenecke mitten im dichten Dickicht der großen Stadt, den keiner unverändert verlässt. Auch die, die meinen nichts abbekommen zu haben, werden sich einige Zeit später bewusst, dass sich ihr Leben gewandelt hat.
Die meisten bringen etwas, was sie loswerden wollen und hoffen damit eine gute Tat begangen zu haben, weil sie das Gebrachte nicht vorher schon weggeworfen haben und es auf diese Weise etwas Neues stiften könne: Freude oder Bildung oder Kompetenz oder „Ja-was-weiß-man-schon“. Nicht alles aber wird von den beiden Betreibern angenommen, weil es sonst nur in anderen Regalen verstauben würde als bisher. Da sind sie ganz streng die beiden, aber mit milden Worten. Er, der Betreiber, bildet dann Sätze, die sich in mehreren Windungen ohrwärts räkeln und meist dazu führen, dass man den Laden zwar unverrichteter Dinge aber mit guter Laune verlässt, immer um ein Lesezeichen oder einen guten Tipp reicher. So beginnt der Wandel. Sie, die Betreiberin, ist da von direkterer Art, aber keineswegs unfreundlich. Vielmehr verursacht ihr herber Blick über die Brillenränder ein Schmunzeln, mal auf den Lippen, mal nur im Inneren. Auch so fängt der Wandel an. Und wenn einmal die Hündin der beiden da ist, die auf den Namen eines herbstlich reifenden Steinobstes und einer griechischen Hafenstadt hört, dann bleibt ohnehin kein Herz unberührt und es fallen Worte, die sonst nicht gewechselt worden wären. Die, die nichts bringen, kommen dennoch, um etwas los zu werden: einen Wunsch, eine Qual, die schwer auf der Seele lastet oder auch ein Bedürfnis, mal ganz nah versorgt zu werden. Und das werden sie: mit einem feinen Ratschlag oder einem der besten türkischen Kaffees der Stadt, die der Meister des Hauses auf einer kleinen elektrischen Kochplatte ganz persönlich und in immer dem gleichen, genau festgelegten Ritual zubereitet oder gar mit dem Stoff, aus dem Lebensträume sind. Schon von außen spricht der Laden die Vorübergehenden an, jeder fühlt sich persönlich gemeint, manche aber ergreifen sobald sie die liebevoll gestalteten Auslagen sehen, sofort die Flucht, da sie das aus dem Alltag-Fallen fürchten, das auch ihr Leben verändern könnte. Jedes Kind mag hinein, nicht alle Eltern. Hinter den Schaufensterscheiben wimmelt es je nach aktuellem Angebot von unsäglich Selbstgemachtem (man erkennt unschwer, dass die Betreiberin hier höchst selbst Hand angelegt hat), auch vor der Eingangstür des Ladens lädt ein Tischchen mit zwei Stühlen zum Verweilen unter einer groß aufgeblasenen Sonnenblume ein, die – um vom Wind nicht verweht zu werden – fürsorglich an einer Schnur festgebunden ist. Die Liebe, nein die Passion der beiden Besitzer, spricht hier aus jedem Detail. Wer diesen Ort noch nicht kennt, hat mindestens etwas versäumt, wenn nicht sogar alles. Wer diesen einmaligen Raum, dieses lauschige Plätzchen nun stante pede kennen lernen möchte, um sich am Genuss seiner Waren zu laben, muss nur seinem Gusto auf Bücher folgen – und schon wird er fündig werden, in jenem kleinen Laden an der Dreistraßenecke mitten im Dickicht der großen Stadt. Und er darf voller Zuversicht sein, dass er auf solche Weise gewandelt auf noch besseren Spuren seines Lebens wandeln wird, wenn er einmal durch das Portal eingetreten ist, in jene Stätte, deren Wandregale voll sind mit allem, was man vom Leben erwarten darf. |
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Februar 2021
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