Das war einer jener Momente, vor denen man sich als Vater immer fürchtet. Für Pertti waren es zwei Situationen, die ihn dieses Fürchten lehrten: nämlich keine Antwort auf eine Frage seines Sohnes zu haben oder ihm eine schlechte, eine sehr schlechte Nachricht überbringen zu müssen.
Gestern abends noch hatten sie sehr ausgelassen den Jahreswechsel gefeiert, es war der erste Silvester gewesen, an dem Matti erst zur gleichen Zeit wie seine Eltern ins Bett gegangen war – und das war gegen zwei Uhr morgens gewesen. Mit dabei war auch Mattis Eisbär gewesen, ein Kuscheltier, das er einmal von der Nachbarin bekommen hatte, als Vorschuss sozusagen. Ja, er musste ihr versprechen, dass er nie wieder so laut toben würde, denn sonst würde der Eisbär wieder weglaufen. Pertti und seine Frau waren in diesem Moment derart perplex gewesen, dass sie kein anderes Wort außer “Danke” herausgebracht hatten, während Matti begeistert vom weißen weichen Fell des neuen Bettgenossen auch nur “Ja, klar” gesagt hatte. Damals war er 4 Jahre alt gewesen. Heute, fast 6 Jahre später, lebte dieser Eisbär immer noch. Die Nachbarin hatte noch viele Male an die Wände geklopft und auch zwei böse Briefe geschrieben, geschehen war aber nichts. Weder war der Eisbär davon gelaufen, noch wurde jemals die Polizei gerufen oder die Hausverwaltung eingeschaltet. Allerdings hatte es doch einige Zeit gedauert bis Mattis Eltern sich wieder entspannt hatten und von ihrem “Sei nicht so laut, sonst rennt der Eisbär weg” wieder losgekommen waren. Matti hatte dann immer seinen Eisbären ganz, ganz fest gehalten - und kein Mensch der Welt hätte ihm diesen in jenen Momenten wegnehmen können; geschweige denn hätte der Eisbär eine Chance zum Weglaufen gehabt. Heute, mehr als sechs Jahre später, war der Eisbär also immer noch Mattis Lieblings-Kuscheltier, obwohl er bereits starke Gebrauchsspuren aufwies und sein Fell schon grau und stumpf geworden war. Dieses Geschenk der alten Dame von nebenan hatte allerdings zur Folge gehabt, dass sich Matti für das Leben der Eisbären zu interessieren begonnen hatte. Mehrmals hatte Pertti mit ihm den Helsinkier Zoo besucht, es waren auch viele Bücher mit und über Eisbären angeschafft worden und es hatte seither keinen Film mit einem solchen Wesen gegeben, den der Junge nicht gesehen hatte. Knapp vor dem Ende jenes Jahres, in dem er den Eisbären unter Auflagen überreicht bekommen hatte, hatte es eine Weltklimakonferenz gegeben, in der sich alle Staaten der Welt nach jahrzehntelangem Ringen auf eine Reduktion der Erderwärmung auf ein für diese erträgliches und für die Lebewesen des Planeten hoffentlich auch überlebensförderndes Ausmaß einigen hatten können. Auf diese Weise hatte man gehofft, das Steuer nochmal herumreißen zu können und die Folgen des Klimawandels einzudämmen. Noch knapper vor diesem Jahresende war es auf dem Nordpol zum ersten Mal seit es Messungen gegeben hatte, um knapp 30 Grad wärmer gewesen als üblich. Die Temperaturen waren sogar im leichten Plusbereich gelegen. Die Bilder, die damals in den Abendnachrichten gesendet worden waren, waren beängstigend gewesen. Pertti dachte an das für ihn schmerzvolle Dahinschmelzen von Schneemännern in den Wärmephasen oder am Ende des Winters im Garten vor dem Landhaus seiner Großeltern draußen vor der Stadt, als er noch ein Kind gewesen war. In diesen vergangenen sechs Jahren allerdings war es zu einer dramatischen Erwärmung der Winter am Nordpol gekommen und das Polareis war extrem schnell geschmolzen. Plusgrade waren in dieser Region nun keine Seltenheit mehr. Umweltorganisationen und Tierschutzvereine hatten mit verschiedenen Aktionen versucht, das Überleben der Eisbären zu sichern. In den ersten beiden Jahren waren zwei Drittel der Population durch Ertrinken gestorben, da das Eis immer dünner und damit nicht mehr tragfähig genug geworden war. Eine der ersten Ideen der von den Regierungen der an die Polarregion angrenzenden Staaten gebildeten Eisbär-Rettungs-Kommission unter dem verblüffenden Namen “Ice-Breaker” war es gewesen, die Bären an den Südpol umzusiedeln. Bloß hatte das Wetter dort nicht mitgespielt, denn die Erwärmung des Nordens hatte keineswegs zu einer Erwärmung des Südens geführt und dieser war daher nicht wie erhofft bewohnbar geworden. In weiterer Folge hatte man begonnen, die noch lebenden Eisbären einzufangen und in Zoos sowie eigens dafür geschaffenen Eisbären-Stationen mit annähernd natürlichen Lebensbedingungen aufzubewahren - dies war auch von der Erwartung geprägt, dass das Klima nach einer kurzen Phase doch wieder in seinen Normalzustand zurückkehren würde. Die Zeit war vergangen, aber die Situation am Nordpol hatte sich zum Entsetzen aller auf diesem Niveau stabilisiert. Auch an Matti waren die Ereignisse dieser Jahre nicht spurlos vorbeigegangen, es hatte vor einigen Jahren einen richtigen Eisbären-Hype gegeben. Die Zeitungen sowie die Radio- und Fernsehnachrichten waren voll von Eisbären gewesen und hatten ausführlich über deren Situation und die geplanten Rettungsversuche berichtet. Nachdem der letzte Eisbär ins Eisbären-Center nach Spitzbergen überstellt worden war, verebbte die Berichterstattung. Was nur mehr eingefleischte Eisbären-Fans mitbekommen hatten - und Pertti zählte aufgrund seines Sohnes dazu - waren die vergeblichen Versuche, die Fortpflanzung der Eisbären in den eigens für sie gestalteten Indoor-Polarlandschaften der Eisbärenstationen in Schwung zu bekommen. “Diese Viecher wollen einfach nicht mehr ...” hatte es einmal ein bekannter Forscher kurz und emotional zusammengefasst. Die Erde hatte schon viele andere Tierarten verloren, daher gewöhnte man sich an die Situation und an eine Welt ohne die Polarbären. Immerhin gab es ja genug Filmmaterial und diesmal musste man sich nicht mit bloßen Spekulationen zufrieden geben wie bei den von allen Kindern weiterhin geliebten Dinosauriern. Dennoch war es ein Schock gewesen, als Pertti in den Frühnachrichten dieses Neujahrstages hörte, dass das letzte Eisbärweibchen in der Nacht im Eisbärencenter von Spitzbergen verendet war. Und das, obwohl man vor wenigen Tagen noch ganz erfreut berichtet hatte, dass die Bärendame durch künstliche Befruchtung trächtig geworden war. Man hatte diesen großen Erfolg medienwirksam sogar mit Sekt und Kaviar gefeiert. Auch Matti war damals ein Stein vom Herzen gefallen und er hatte seinem Eisbären ins Ohr geflüstert, dass nun alles wieder gut wäre. Umso schwerer fiel es Pertti nun, da er seinen Sohn an diesem Neujahrsmorgen aufweckte, die traurige Nachricht zu überbringen, bevor dieser etwas spitz kriegte. Wie sollte er bloß beginnen? Nachdem sein Sohn sich in seinem Bett aufgesetzt hatte, fasste sich Pertti ein Herz. “Matti”, sagte er, “es ist etwas Trauriges passiert.” Dieser starrte ihn mit erschrecktem Blick an, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, setzte Pertti fort. “Heute Nacht ist Mina, das letzte Eisbärenweibchen, in Spitzbergen gestorben.” Matti blieb weiterhin mit seinem starren Blick sitzen. “Es tut mir leid”, fügte Pertti hinzu und wollte seinen Sohn am Kopf streicheln. Dieser aber stieß ihn mit einer schnellen Bewegung seines Armes weg und rannte mit seinem Stoffeisbären ins Badezimmer. Dort schloss er sich ein. Als Pertti zur Badezimmertüre kam, hörte er von drinnen ein lautes, herzzerreißendes Schluchzen. Auf seine beruhigenden Worte reagierte der Junge überhaupt nicht, vielmehr schien es, als würde sein Weinen immer stärker. Er ließ seinen Sohn gewähren und ging in die Küche um sich einen Schluck Wasser zu genehmigen. Dabei überlegt er, wie er seinen Sohn beruhigen könnte. Schließlich weckte er seine Frau und bat sie um Hilfe. Aber auch Irmelis Bemühungen waren vergebens. Dem Schluchzen hinter der Badezimmertüre folgten heftige, hasserfüllte Worte. “Mörder”, schrie Matti. “Ihr Mörderbande, ihr!” Dann trommelte er mit seinen Fäusten von innen gegen die Türe und schrie erneut “Mörder!”. Irmeli und ihr Mann standen ratlos herum und wussten weder ein noch aus. Da klopfte es auch noch an der Wohnungstüre. Davor stand die alte Nachbarin, die wutentbrannt sofort die Rückgabe des Eisbären forderte, den sie Matti vor Jahren mit Vorbehalt geschenkt hatte. Pertti lud sie in seiner Verzweiflung ein, ihr Glück bei Matti zu versuchen. Er erzählte ihr in kurzen Worten, was vorgefallen war. Die alte Dame erstarrte und begann kurz darauf ungehemmt zu weinen. “Mörderbande!”, flüsterte sie. Als sie sich gefasst hatte, ging sie zur Badezimmertüre, klopfte und sagte mit starker, lauter Stimme: “Komm, Matti, genug geheult, lass uns diese Mörderbande finden und den Tod der Eisbären rächen.” Und kurze Zeit später ergänzte sie: “Und zuerst machen wir uns einen Kakao und überlegen uns, wie wir das am besten hinkriegen.” Es dauerte nicht lange, da öffnete Matti mit tränengeröteten Augen und ebensolcher Nase die Türe, seinen Eisbären unter den Arm geklemmt. Er nahm die ihm angebotene Hand, schaute seine Eltern mit eisigem Blick an, flüsterte ihnen ein heftiges “Mörder ihr!” zu und zog mit der Nachbarin ab. Am gleichen Abend kamen in den Nachrichten Forscher zu Wort, die es für möglich hielten, aus den in den letzten Jahren für alle Fälle aufbewahrten Stammzellen der Eisbären, solche zu klonen. “Wir werden uns doch von dieser primitiven Natur nicht unterkriegen lassen!”, so die eine. Und ein anderer: “Der Mensch ist doch die Herrenrasse hier, geboren um die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Also lasset uns Tiere machen nach unserem Abbild.” Das breite Grinsen dieses Typen wirkte in Pertti noch lange nach.
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Immer schon hatte er sich gewünscht, den Weihnachtsabend am Strand zu verbringen, dabei eher an den Süden gedacht und an die milde, würzige Luft des Meeres und an einen Spaziergang in leichter, lockerer Bekleidung.
Nun schlenderte er am Ufer dieses großen Sees entlang, in der Nähe seines Mökkis im Südwesten Finnlands. Dieses kannte er von seinen Sommeraufenthalten bestens, hatte seinen warmen Nordpol-Stiefel aus seiner Heimat an und war in seine Icepeak-Jacke eingepackt, zusätzlich einen wärmenden Schal um Hals und Mund geschlungen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, so dass nur ein schmaler Schlitz für die Augen übrig blieb. Sehen konnte er ohnehin kaum etwas in dieser nördlichen Dunkelheit, die derzeit fast den ganzen Tag anhielt, obwohl die Wintersonnenwende schon wieder einige Tage zurücklag. Kalt und sternenklar lag diese noch mondlose Nacht um ihn, der wenige Schnee, der Anfang des Monats gefallen war, war längst wieder geschmolzen. So spazierte er also langsam und gemächlich, bloß seine eigenen Schritte und von Zeit zu Zeit das Brechen kleinerer Wellen des Sees hörend, der in der Windstille fast glatt da lag, blieb immer wieder stehen um in das Schwarz, das ihn umgab, zu blicken oder um am Nachthimmel die ihm vertrauten Sternbilder zu entdecken. In seiner Tasche hatte er eine Thermoskanne randvoll mit heißem Glögi, ebenso zwei Stück Roggenbrötchen, ein paar von den von ihm selbst frischgebackenen Weihnachtssternen und eine Aludecke für das geplante Picknick. Sein Kopf war in der klaren Winternachtluft voll mit Gedanken und vor allem Erinnerungen an die Weihnachtsabende seines nun schon mehr als vier Jahrzehnte währenden Lebens. Da gab es diese und jene, aber einen solchen wie heute, den hatte es noch nie gegeben. Er hielt ein weiteres Mal, atmete tief durch und schaltete die Stirnlampe ein, um sein mitgebrachtes Strandpicknick zu genießen. Er suchte das sandige Ufer nach einer passenden Stelle zum Sitzen ab und als er sie gefunden hatte, machte er es sich bequem. Wenig später saß er, mit nun wieder ausgeknipster Stirnlampe da, und genoss die mitgebrachten Köstlichkeiten. Der heiße Glögi dampfte und mit jedem Schluck füllte sich seine Körpermitte mit wohliger Wärme, die nach und nach auch die Gliedmaßen erreichte und schließlich auch seine Wangen erhitzte. Er hatte, um der Kälte vorzubeugen, auch einen Schuss Wodka dazugemischt, was sich jetzt eindrucksvoll bewährte. Der See lag immer noch fast glatt da, die eine oder andere Welle brach sich in unregelmäßigen Abständen am Ufer und die Nacht lag still um ihn. In der Ferne sah man von Zeit zu Zeit das Aufblitzen von Scheinwerfern oder Rücklichtern von auf der Uferstraße fahrenden Autos. Die Welt nahm auch heute ihren Lauf, obwohl doch mit diesem Fest eine Unmenge an Hoffnungen verbunden war, die regelmäßig enttäuscht wurden. Immer wieder hatte er erfahren wie sein Leben vor den Weihnachtsfeiertagen plötzlich an Fahrt aufgenommen hatte, als wäre ein stürmischer Nordwest plötzlich und unerwartet in die Segel seiner Jolle gefahren. Dann hatte er alle Hände voll zu tun, um der neuen Wetterlage Herr zu werden. Diese Dynamik war dann regelmäßig in der Nacht der Nächte zu Ende gegangen, meist mit einem unbefriedigenden Gefühl für ihn. Egal in welche Lebensverhältnisse es ihn verschlagen hatte, irgendetwas stimmte mit diesem Fest nicht - oder mit ihm und seinem Verhältnis dazu. Daraus war auch sein regelmäßiges Sehnen entstanden, den Heiligen Abend am Meer zu verbringen, weit fort von seinem alltäglichen Leben, geborgen in der Ferne mit dem freien Blick auf den Horizont und allein, um endlich eins zu werden mit dem Leben, seinem Leben. Er wollte endlich geboren werden, zu dem werden, was er war, aber immer noch nicht entdeckt hatte. Regelmäßig aber war er abgelenkt worden, hatte sich vielleicht auch ablenken lasse, es hatte immer dann, wenn er gerade das Gefühl hatte, der Durchbruch ins Sein stehe grade bevor, einen Umschwung in seinem Umfeld gegeben, der ihn zum Kurswechsel gezwungen hatte. Die Gründe dafür waren mittlerweile unzählige und die Zeit schien ihm davonzulaufen. Das spürte er jetzt hier am dunklen Seeufer ganz deutlich. Er nahm es wohl auch deswegen so intensiv wahr, weil er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich allein war. Kein Mensch, der mit ihm mitgekommen war, um im Mökki die Feiertage mit ihm zu verbringen, auch kein Mobiltelefon, das ihn stören konnte, weil er es einfach abgestellt hatte. In diesem Moment packte er schnell seine Sachen, stand auf und begann weiter zu gehen. Nach einigen Schritten fiel ihm auf, dass er sein Tempo wesentlich beschleunigt hatte, fast so als wäre er in Eile oder auf der Flucht. Er blieb stehen und lächelte. Es gab keinen Grund wegzulaufen. Es gab vielmehr allen Grund jetzt bei sich zu bleiben und auf das zu horchen, was da in den letzten Wochen in ihm heranzuwachsen begonnen hatte. Langsam schlenderte er weiter, in sich und seinen Gedanken versunken, als er sich in etwas verfing, das da am Strand lag. Da er seine Füße nicht befreien konnte, schaltete er die Stirnlampe ein. Er hatte sich offensichtlich in einem dünnen, grünen Bootstau verheddert. Da er die Leine um seine Knöchel nicht loswurde, legte er die Tasche ab und setzte sich in den kalten Sand. Nach und nach gelang es ihm das eine Ende der Schnur, in das er sich verwickelt hatte, loszuwerden. Das andere Ende lag in der Dunkelheit, er konnte es nicht erkennen. Da der Schein seiner Stirnlampe nicht so weit reichte, zog er am Tau bis ein kleiner, rosafarbener am Seil befestigter Styroporquader in Sicht kam. Er schleifte das Ding zu sich heran und nahm es in die Hände. Auf den Quader war mit blauem Filzstift eine Telefonnummer drauf geschrieben. Er untersuchte das federleichte Stück Styropor auf andere Merkmale, konnte aber sonst keine entdecken. Sofort nachdem er die Telefonnummer entdeckt hatte, begann er in seinen Gedanken zu fantasieren. Da fielen ihm die banalsten und die wildesten Geschichten ein, jedenfalls war er mit einem Mal wieder herauskatapultiert aus seiner Welt und gefangen genommen von den Aussichten, die dieser Eintrag ermöglichte. Es waren viele Leben, die ihm durch den Kopf spukten, er wusste nicht, welcher Spur er folgen sollte, er ließ sich dahintreiben und bemerkte gar nicht, dass vor wenigen Minuten der Mond aufgegangen war und den See und die ganze ihn umgebende Landschaft in ein wahrlich gespenstisches Licht tauchte. Viele Minuten, ja sogar Stunden zogen dahin, ehe er der wieder Umgebung und seiner Existenz gewahr wurde. Er stand da am Ufer des Sees, erhitzt von seinen Gedanken und der Kälte trotzend, die Stirnlampe war längst erloschen. Der nahezu volle Mond machte nunmehr alles ganz hell. Er griff in seine Tasche und suchte nach seinem Mobiltelefon, das er für den Notfall mitgenommen hatte. Und um einen Notfall könnte es sich ja auch handeln bei dieser Botschaft, die aus einer Telefonnummer bestand, auf diesem Stück rosa Styropor. Hastig schaltete er das Handy ein, tippte den PIN in die Tastatur und wählte die Nummer. Er musste gar kein Freizeichen abwarten, denn sofort meldete sich eine tiefe, beruhigende aber dennoch seltsam anregende Frauenstimme, die von einladender Musik im Hintergrund begleitet wurde. Er hörte: “Hyvää Joulu-iltaa, sinullekin, yksinäinen mies kylmässä Joulu-yössä, täältä löydät lämpöä, rakkautta ja seksiä. Eikä se maksa kuin 6,66 euroa minuutissa, paina ykköstä ja puhu Tanjan kanssa, paina kakkosta ja Jenni viihdyttää sinua vaikka loppuillan tai paina kolmosta, niin pääset juttelemaan Annelin kanssa. On siis valinnan varaa ... “ , drückte die 3 und überließ sich dem Leben, ließ kommen, was da kommen wollte. Es ist so weit. Alle Jahre wieder in der zweiten Oktoberhälfte, dann wenn der Abend eines klaren Herbsttages anbricht, stellt es sich ein: das lila Leuchten. Und es ist nicht nur draußen, weit außerhalb der Stadt zu sehen. Es ist, wenn man einen achtsamen Blick dafür hat, überall zu entdecken, auch mitten in der Großstadt.
Das erste Mal ist es mir vor mehr als 20 Jahren aufgefallen, als ich in den bewaldeten Hügeln im Norden meines Heimatlandes meine Herbstferien verbracht habe. Ich bin mit meinen Töchtern bei einer Freundin meiner Frau, die ebenfalls eine Tochter hatte, zu Besuch gewesen. Sie hat für uns ein feines Quartier zurecht gemacht, das kleine Bauernhäuschen ihrer Eltern, das sein zweites Leben als Touristenunterkunft erhalten hatte. Es ist beschaulich am Rand des Waldes gelegen, abseits einer Forststraße, die kaum befahren gewesen ist. Als ich es am Nachmittag unseres ersten Ferientages in der letzten Oktoberwoche jenes Jahres erstmals zu Gesicht bekommen habe, habe ich den heiligen Schauer und die Verheißung, endlich zu Hause angekommen zu sein, verspürt. Ich habe ihn erst einige Wochen später, als ich mein Leben in der Hauptstadt wieder aufgenommen hatte, richtig deuten können. Die Sehnsucht nach diesem Haus, nach diesem Wald, nach diesen Tagen und nach ihr, die mich seither zumindest einmal im Jahr befällt, ist bis heute lebendiger Ausdruck dieses beeindruckenden Gefühls. Nun waren wir also im Haus angekommen und Melina hat mir die Schlüssel mit einem kecken “Fühlt euch wie zuhause” übergeben. Ihr Blick hatte die eine Sekunde länger gedauert als es belanglose Blicke zu tun pflegen. Damit ist dieser Moment zu einem besonderen Augenblick geworden - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben uns für einen Spaziergang eine Stunde später verabredet, der dann töchterbedingt, später als geplant, schon in der Dämmerung dieses Tages stattgefunden hat. Er hat uns nur ein kurzes Stück in den Wald geführt, der in dieser Gegend sehr dicht steht, so dicht, dass es meinen Kleinen bald bange geworden ist an jenem Abend. Wir haben unseren Ausflug also sehr bald beendet und uns von Melina und Tochter kurz nach dem Zusammentreffen gleich wieder verabschiedet. Diesmal ist es ihr Händedruck gewesen, der mich noch bewegt hat, als die Mädchen schon im Bett gelegen sind. Er ist mir sehr vertraulich, ja auch vertraut vorgekommen obwohl wir uns doch vorher nur oberflächlich begegnet waren. Meine Frau und Melina hatten einander kennengelernt als auch Melina noch in der Hauptstadt gelebt hatte. Von da an waren die beiden hie und da miteinander unterwegs gewesen, und wir beide hatten uns nur in den wenigen Momenten gesehen, als Melina meine Frau von unserer Wohnung abgeholt hatte. Einmal oder zweimal waren wir gemeinsam mit unseren Töchtern in einem nahen Park gewesen, aber da hatte ich bereitwillig den Kinderdienst übernommen und die beiden Freundinnen hatten das Leben bequatscht. In der völligen Stille des Häuschens, in der ich sogar das Atmen meiner Töchter im Nebenzimmer hören habe können, fernab der alltäglichen Hauptabendprogrammroutine meines großstädtischen Zuhauses, habe ich versucht, dem Sinn dieses Händedrucks nachzugehen. Ich habe mich an dessen Wärme erinnert, ich habe ihn mit anderen Händedrücken zu vergleichen begonnen, ich habe mich trotz aller Bemühungen nicht mehr daran erinnern können, dass meine Frau und ich jemals einen Händedruck gewechselt hätten - und wenn doch, dann sicher keinen solchen. Ich habe mich in diesen Stunden im Fluss meiner Gedanken immer weiter von dort entfernt, wo ich erst wenige Jahre vorher Wurzeln zu schlagen beschlossen hatte. Ich habe zu träumen begonnen, was aus Melina und mir werden könnte, wenn ich diesen Händedruck ernster nähme als er womöglich gedacht war. Erst als meine jüngere Tochter mich mit ihrem albtraumerschreckten Schreien in die Gegenwart zurückgeholt hatte, habe ich wieder auf die Uhr geblickt. Es ist schon weit nach Mitternacht gewesen. Es ist also höchste Zeit geworden, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, um am schon begonnenen Tag einen guten, entspannten Vater abzugeben. Außerdem ist für den nächsten Nachmittag der Besuch einer Vernissage in einem nahe gelegenen Schloss am Programm gestanden, der in Begleitung meiner Töchter sicher auch die eine oder andere Herausforderung zu bieten hatte. Die Nacht ist traumerfüllt und schnell vergangen und ich bin mit dem Gefühl des zeitlosen Jetzt erwacht, das keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, nur diesen Augenblick. Verschwebendes Schweigen als ich ins Innere des Häuschens lauschte, ebensolches als ich’s durchs geschlossene Fenster nach draußen hindurchhorchte. Aber der Tag ist schon angebrochen gewesen, das grelle Licht der Sonne, die schon durch die Vorhänge ins Haus hinein geschienen hat und vor deren Helligkeit ich die Augen zukneifen musste, hat dies eindrucksvoll bezeugt. Nach einer kalten Dusche, die auf meiner Nachlässigkeit beruht hat, dass ich ob meiner Tagträume am Vorabend den Heißwasserspeicher nicht eingeschaltet hatte, hat der Tag schnell an Fahrt aufgenommen. Am Vormittag sind Melina und Tochter plötzlich vor unserem Haustor gestanden. Wir hatten uns eigentlich erst für den Nachmittag verabredet gehabt, um die Ausstellung im Schloss zu besuchen, daher bin ich überrascht gewesen. Es ist aber eine angenehme Überraschung gewesen, die allerdings schnell verflogen ist, als Melina angespannt den Wunsch geäußert hat, ich möge mich um ihre Tochter kümmern da sie noch einen wichtigen Weg zu erledigen hätte. Als Melina auch gegen Mittag noch nicht zurück gewesen ist, habe ich schon mal für die Mädchen und mich Spaghetti gekocht. Ich habe sogar eine Portion mehr gemacht, falls Melina nach ihrem wichtigen Weg hungrig ins Häuschen zurückkehren würde. Bloß gekommen ist sie nicht. Also habe ich den Mädchen auf dem Sofa in der Wohnküche eine Mittagspause verordnet, die sie nur leidlich angenommen haben. Immer wieder habe ich die drei zur Ruhe mahnen müssen, während ich im Schaukelstuhl vor dem Kachelofen meinen sorgenvollen Gedanken nachgehangen bin, wo Melina denn um alles in der Welt solange bliebe. Und dann hat es plötzlich an der Türe geklopft und die Mädchen sind sofort drauf los gestürzt, um der endlich zurückgekehrten Melina zu öffnen. Sie hat sehr mitgenommen ausgesehen, als sie ins Häuschen getreten ist, hat aber kein Wort über das in den letzten Stunden Erlebte verloren. Ihre Tochter hat mir dann mit ihrer Frage nach ihrem Vater einen Hinweis gegeben, so Melina die letzte Zeit verbracht haben könnte. Weder hat sie die für sie aufgehobenen Nudeln essen noch einen Kaffee trinken wollen, vielmehr hat sie ihre Tochter schnell angezogen und ist stante pede aufgebrochen. Kein Händedruck, kein weiterer Augenblick, ich bin verloren im Vorraum gestanden, von einem unbestimmten Schmerz erfüllt. Meine Töchter aber haben mich rasch wieder in den Alltag geholt. Die Fahrt zum Wasserschloss im Nachbarort wenige Stunden später in Melinas Wagen ist dann großteils schweigend verlaufen, also zumindest was uns Erwachsene betroffen hat. Die Mädchen haben sich auf der Rückbank des Wagens köstlich amüsiert und sind auch während der Vernissage noch recht überdreht gewesen. Dort angkommen sind wir den Bildern gefolgt, haben einen Raum nach dem anderen begangen, und haben mit den Kindern mehr zu tun gehabt als uns lieb gewesen wäre. Die Bilder jener Künstlerin, deretwegen ich mich schon so auf diesen Nachmittag gefreut hatte, haben nur Schatten geworfen, aber keinen lebendigen Eindruck hinterlassen. Irgendwie ist über alldem auch Melinas Stimmung gelegen, die ich nicht deuten habe können und zu der sie mir auch keinen Zugang verschafft hat. Auf der Rückfahrt dann, in der Dämmerung dieses klaren Spätoktobertages, sind wir direkt in einen beeindruckenden Sonnenuntergang hineingefahren. Die dunklen Wipfel der Wälder haben sich an einem tiefblauen Horizont abgezeichnet. Ein paar Schleierwolken haben die orangerote Sonne beim Untergehen begleitet. Als die Sonne am Ende der Ebene zu verschwinden begonnen hat, hat sich das Rot ihrer letzten Strahlen mit dem Blau des Himmels vereint und mir zum ersten Mal in meinem Leben das lila Leuchten beschert. Auch Melina ist von diesem plötzlichen Farbwechsel am Himmel aus ihren Gedanken erwacht und hat das Auto an den Fahrbahnrand gefahren. Wir beide sind unter dem Protestgeschrei unserer Töchter aus dem Auto gestiegen und haben uns das beeindruckende Schauspiel da draußen angeschaut. Als wir beide so auf der Kühlerhaube des Pkws gesessen sind, hat Melina plötzlich meine Hand genommen und leise und bedächtig vor sich hingemurmelt, dass das Leben doch schön wäre. Ich habe zu ihr hingeblickt, während sie immer noch meine Hand gehalten hat. Sie aber ist in seltsamer Übereinstimmung mit diesem Augenblick ins Lila des Abendhimmels versunken gewesen. Nun stehe ich hier am Fenster meiner Wohnung am westlichen Großstadtrand. Heute, in dieser Dämmerung Anfang November ist es - wie schon so oft seit jener Zeit - zurückgekehrt das lila Leuchten des Abendhimmels. Es entführt mich auch diesmal zu jenem Augenblick mit Melina am Straßenrand auf unserem Heimweg vor vielen Jahren. Es weckt auch heute wieder diese Geborgenheit des Zuhauseseins in Melinas Häuschen, das Einssein mit mir und der Welt, das ich damals zum ersten Mal so deutlich empfunden habe. Melina habe ich nach diesem Moment in den ersten Jahren noch das eine oder andere Mal gesehen, meist in Begleitung jenes Mannes, des Vaters ihrer Tochter für den sie damals ihren mir noch immer unbekannten Weg auf sich genommen hatte. Seit meine Töchter erwachsen geworden sind und ich von meiner Frau getrennt lebe, habe ich die Wälder des Nordens nie mehr besucht. Ich habe diesen Augenblick, der mir für immer gegenwärtig sein wird, niemals aufzuscheuchen versucht: Das Zuhause in den waldigen Hügeln im Norden und Melina mit ihrem sanften, lange währenden Händedruck und ihren Worten beim Blick ins und unserem gemeinsamen Sein im Lila jenes Abendhimmels. Er starrt ins Jenseits, mitten hinein in die Wälder, dorthin wo Ruhe waltet. Die Scheibenwischer ziehen ihre Bahnen, um den dichter werdenden Schneefall in Schach zu halten und ihm den klaren Blick ins Außen zu erhalten. Wie er hier an den Waldrand gelangt ist, daran fehlt ihm jegliche Erinnerung. Er weiß noch von seinem Aufbruch hierher nach den Schrecken des Morgens. In diesem Augenblick ist er sich seines Daseins bewusster denn je. Aus seinem No-Name-Leben hat es ihn heute früh hinein in die Mitte dieses Seins gezogen, das er lange schon ersehnt hatte.
Der Motor läuft noch, aus den Lüftungsschlitzen bläst ihm ein warmer, gleichmäßiger Luftzug entgegen, der ihm eine Erinnerung an eine ferne Zeit schenkt, als er von der Felsenküste aus übers sanft bewegte Meer geblickt hatte, einem sonnenuntergangsgeschwängerten Horizont entgegen. Damals hatte er mit einem Mal gewusst, dass da noch etwas kommen würde. Etwas, das ihn erheben würde über die Niederungen seines Lebens, ihn hoch hinauf katapultieren würde, dieser Sonne entgegen, frei wie Ikarus und mächtig, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. In der Morgendämmerung dieses Tages hat er sich dazu ermächtigt, so viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später. Er hat sich seiner Existenz entledigt, dieser fortlaufenden Erniedrigung durch eine Aneinaderreihung von Sachzwängen. Zuerst hat das sein Chef zu spüren bekommen, der seine Fähigkeiten nie erkannt hatte, eine Begabung, die ihm durch seine Kindheit in den Schoß gefallen war. Er war gestählt worden im Kampf mit dem Feind, er hatte sich fast 17 Jahre lang in einen Kokon begeben, hatte dem Orkan der väterlichen Worte und Taten getrotzt und dem flehenden Gejammer der Mutter, er möge doch bitte, bitte ihr Leben nicht zerstören. So viele Stimmen in seinem Kopf hatte er aushalten gelernt, hatte sich mit ihnen arrangiert, hatte sie einmal liebevoll schmeichelnd, dann wieder herrisch anfahrend zumindest für kurze Zeit zum Schweigen gebracht. So viele Masken hatte er tragen gelernt. Er war der brave Bub gewesen, der angepasste, der halt in der Schule nicht so recht funktionieren wollte, der aber mit Hilfe des Bitten und Bettelns seiner Mutter bei den Lehrern den Schulabschluss hingekriegt hatte. Er war der willfährige Junge gewesen, der eine Lehre zum Bankkaufmann, die ihm sein Vater bei einem alten Schulfreund vermittelt hatte, begonnen hatte. Er war der undankbare Sohn gewesen, der dieses Lehre abgebrochen hatte, und mit den Konsequenzen seines Fehlverhaltens leben lernen hatte müssen. Mit 17 war er auf der Straße gestanden, weggeworfen, ausgesaugt und nichtsnutzig, verstoßen für alle Zeiten - unter den Tränen seiner zu Tode bekümmerten Mutter, deren Leben nur wenige Monate danach zu Ende gegangen war. Friedlich entschlafen sei sie, hatte der Vater bei seiner Abschiedsrede am offenen Grab gesagt, an dem er als Zaungast teilgenommen hatte, hinter dem Grabstein von Erni, seiner ersten großen noch kindlichen Liebe, die mit 14 samt ihrer Freundin Bea mutig in die Ewigkeit geflogen war. Dorthin, wo sich damals auch seine Mutter mit Hilfe zweier Packungen Dormiol hineingeschlafen hatte. Ihren Abschiedsbrief hatte er erst beim Räumen der väterlichen Wohnung gefunden, einige Wochen nach dessen Tod, den dieser durch Ertränken seines Lebens im Alkohol hervorgerufen hatte. Darin hatte sie sich bei ihm entschuldigt, hatte von Buße gesprochen, die sie zu tun hätte, hatte von Todesstrafe gesprochen, die sie verdient hätte, weil sie seinem Seelenmord tatenlos zugeschaut hätte. Damit hätte sie das Leben ihres einzigen Sohnes so gnadenlos aufs Spiel gesetzt. Stolz wäre sie auf ihn gewesen, dass er es soweit gebracht hätte, dass er sein Leben ob seiner Stärke alleine zu meistern im Stande wäre. Zumindest das wollte sie sich als Gutschrift anrechnen lassen, wenn sie dereinst vor ihrem Richter stünde. Wo auch immer sie den Erfolg gesehen hat, den sie ihm mit diesen Worten zugeschrieben hatte, ist ihm bis heute nicht klar. Plötzlich schmerzt ihn seine linke Seite, wie von einer offenen Wunde geplagt lässt er sich in den Sitz zurückfallen und schließt für einen Moment die Augen. Er tastet nach seiner Herzgegend und als er die Augen wieder aufschlägt, sind seine Hände voller Blut. Er blickt an seinem Hemd hinunter, das blutgetränkt ist. Abermals schließt er die Augen. Die Bilder, die sich ihm bieten, sind so abscheulich, dass er schnell wieder ins Außen, in Richtung Ruhe schaut. Hat tatsächlich er dieses Blutbad angerichtet, das kurz zuvor wie ein Alptraum aufgeblitzt ist und ihn schweißgebadet zurückgelassen hat inmitten dieser weißen Pracht, die allen Kindern dieser Welt die helle Freude ist? Noch etwas blitzt auf in ihm, als er die schneebedeckten Bäume durch die Windschutzscheibe betrachtet. Ein Moment unbeschwerter Ewigkeit als er eines Morgens gleich nach Tagesanbruch heimlich aus dem Haus geschlichen war, hier an den Rand dieses Waldes, und sich ins Leben fallen lassen hatte. Er hatte Arme und Beine bewegt und auf diese Weise den knietiefen Schnee zur Seite geschoben. Kurze Zeit später hatte er sich selbst als Engel wiedererkannt, als einer von dem seine Großmutter ihm öfter erzählt hatte, er hatte die Schwerelosigkeit gespürt, aus der er kurze Zeit später wieder in seine Wirklichkeit gestürzt worden war. An diesem Tag, zurückgekehrt an den Rand seiner Zukunft, nimmt er nur noch die Folgen dieser Bruchlandung war, seine Versuche diesen kurzen Moment davor nochmals zu reproduzieren - so wie er es unzählige Male getan hatte, um der Wahrheit zu entkommen - misslingen und er sitzt da, hinter dem Steuer seines Wagens und sieht sich selbst als gefallenen, aus dem Paradies verstoßenen Engel; er selbst als Luzifer, der durch diesen Fall als verquerer Lichtträger Genötigte. Es war niemals leicht gewesen doch am Morgen dieses Tages ist plötzlich alles ganz einfach gewesen. Er hat sein StG 77 aus dem Spind genommen, die über einen langen Zeitraum bei diversen Schießübungen eingesparten Patronen vom Kaliber 5,56 ins Magazin geschoben, zwei weitere Magazine damit gefüllt und den Rest in die Jackentaschen gesteckt, und ist losgezogen über den Kasernenhof, aufs Ziel fokussiert: die Kanzlei seines Kommandanten. Er ist am überraschten Kompanieschreiber vorbeigestürzt, ist weiter gegen die Tür des Befehlshabers gestürzt, die seinem gewaltigen Fußtritt im Nu nachgegeben hat und hat sein Ziel Schriftstücke studierend an seinem Schreibtisch sitzend vorgefunden. 2700 m Höchstschussweite, 300 m Einsatzschussweite, theoretische Schussfolge 700 Schuss pro Minute, VO 990 Meter in der Sekunde. Wie oft hatte er diese Daten gebetsmühlenartig dem Meister der Einheit zackig ins Gesicht schleudern müssen. Er hat noch eine Sekunde gewartet und als der Blick seines Chefs auf ihn gefallen ist, hat er abgedrückt. Dauerfeuer. Nach zehn Schuss ist die Stimme ohne noch einen letzten Befehl geben zu können für immer verstummt, die Stimme, die ihn gequält und gequält hatte, die ihn erniedrigt hatte und ihm den letzten Tropfen der Hoffnung geraubt hatte. Diese hatte er in den Anfängen seiner Dienstzeit hier noch gehegt, da er der bessere Soldat als sein Vater hatte werden wollen. Er hat sich umgedreht, da sind plötzlich zwei, die sich auf ihn werfen haben wollen, hinter ihm gestanden und er hat nochmals abgedrückt. Dauerfeuer. Zwei weitere Mann gefallen im Krieg für das Gute, das Licht zurückzubringen in diese dunkle, verdorbene, gottlose Welt. Wenn das einer konnte, dann er, der vom Mal seiner Kindheit auserkorene Lichtträger. Er hat dann das Magazin gewechselt und ist mit der Waffe im Anschlag über den Kasernenhof gerannt, der in der Dämmerung des anbrechenden Tages noch ziemlich verschlafen dagelegen ist. Knapp vor der Ausfahrt hatte er seinen Wagen unverschlossen geparkt, ist in ihn hineingesprungen um in einem Höllentempo an den verdutzten Wachen vorbei jene Schranke zu durchbrechen, die ihn so oft von seiner Freiheit getrennt hatte. Ihr hatte er sich täglich ausgeliefert, an ihr war er oft minutenlang gestanden, ehe er zum Eintreten bereit gewesen war. Sie hatte ihm aber auch Sicherheit gegeben; dennoch hatte er sich hinter ihr so oft wie im Gefängnis gefühlt. Weiter ist es gegangen, in das Haus seiner Eltern, das ihm nach deren Tod wieder zur Heimstatt geworden war. Das Haus, in dem er mit der Gründung einer eigenen Familie alles auslöschen hatte wollen, das sein Leben so tragisch gezeichnet hatte. Er hatte alle Möbel ausgetauscht, die Zimmer gewechselt, den Wänden neue, lebendige Farben gegeben, hatte wie im Rausch an einem neuen, befreiten Leben gearbeitet, einem Künstler gleich, der auf diese Weise das Werk seines Lebens schaffen hatte wollen. Er hatte eine Frau gefunden beim Tanz am Feuerwehrfest, inmitten eines Schlagers seiner Kindheit, den seine Mutter schon so geliebt hatte, zu dem sie sich in der Küche so oft sanft gewiegt hatte. In diesen Momenten hatte sie diesen einzigartigen, glücklichen Gesichtsausdruck gehabt, der ihr im Rest ihres Lebens gefehlt hatte. An diesem Morgen ist seine Frau in der Küche gestanden und hat gerade die Milch aufgebrüht für das Fläschchen des Jüngsten. “Du schon wieder” waren ihre letzten Worte gewesen, ehe der Krieger des Lichts sie mit unzähligen Schüssen niedergestreckt hat. Nie wieder würde sie ihn mit ihren Vorwürfen quälen, nie wieder würde sie ihm mehr abverlangen können, als er zu schaffen vermochte. Nie wieder würde sie ihn im Kreise der Freunde der Lächerlichkeit preisgeben können, mit ihren abfälligen Bemerkungen über seine Männlichkeit seinen Männerstolz beschmutzen. Er hat sich zu ihr gekniet, ihr die Augen geschlossen und noch bevor die ältere Tochter ihre Mutter erreichen hat können, hat er auch sie im Flur vom Leben erlöst. Nie sollten seine Kinder das gleiche durchmachen müssen wie er, nie sollten sie das erleben, was ihm das Leben geraubt hatte. Auch zu ihr hat er sich kurz hingekniet, war ihr noch einmal sanft durchs Haar gefahren, hat auch ihr die Augen geschlossen. Er hat ihre Seele mit Engelsflügeln immer höher steigen sehen, doch war dieses Emporsteigen von unmenschlichem Wehklagen begleitet, das auch noch nachgehallt hat, als er in seinem Wagen schon Richtung Wald unterwegs gewesen ist. Aus dem Kinderzimmer ist das Schreien des Jüngsten zu hören gewesen, der auf seine Milch mit Honig gehofft hat. Stattdessen hat er noch Süßeres bekommen, den Frieden und jene Ruhe, die nur die Ewigkeit zu geben im Stande ist. Still und stumm und mit von den Tränen gequältem Gesicht ist er dagelegen, sein weißer Strampler hat sich binnen Sekunden rot gefärbt und seine Unschuld ist in diesem Augenblick endgültig gemeinsam mit seinem Leben gewichen. Ihm hat er nicht in die Augen sehen können, mit abgewandtem Blick hat er ihm noch einmal über den Kopf gestreichelt und dann auch die Augen seines Sohnes für immer geschlossen. Die Waffe liegt immer noch am Beifahrersitz als das Brummen des Motors und das rhythmische Geräusch der Scheibenwischer gleichzeitig mit der warmen Brise an den Stränden Kroatiens erstirbt. Es herrscht nun jene Stille, die sich seine Mutter für ihr Leben immer gewünscht hatte und die auch er besonders an den Weihnachtsabenden immer erhofft hatte. Eine Zeit lang starrt er noch der Ruhe entgegen, die die Wälder ihm jetzt für alle Zeit zu geben bereit sind. Er steigt aus dem Wagen, holt den Spaten aus dem Kofferraum seines Kombis und schreitet langsam, bedächtig und in Gedanken unter den Schutz der mächtigen Bäume, deren Leben lange vor seinem begonnen hatte. Im letzten Schweiße seines Angesichts hebt er einmal noch einen Schützengraben aus. Diesmal aber will er sich nicht mehr wehren und mit dem Gewehr im Anschlag auf den Feind warten, um sein Leben zu retten. Diesmal legt er sich nach getaner Arbeit in der Aushebung ausgestreckt auf den Rücken, starrt in die weiße Pracht, die in einem wilden Durcheinander vom Himmel stürzt, so wie er einst von dort oben gestürzt worden war. Sie löscht nach und nach das Rot seiner Taten und - sein Leben. |
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Februar 2021
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