K.H. Gessler, eigentlich Konrad Heinrich Gessler, war das ganz große Los, das Donner vor kurzem gezogen hatte. Wie der auf ihn gekommen war, wusste er nicht so wirklich, es gab die Version des Betroffenen, dann jene seines Pressesprechers und schließlich die, die sich Peter zusammengereimt hatte.
Also, dieser Gessler war vor längerem, sprich etwa vor 6 Monaten zum neuen Innenminister der Republik angelobt worden. In seinem früheren Leben war er der Eigentümer einer Sicherheitsfirma, die im Auftrag der Regierung die Erneuerung und Verwaltung des einzigen Erstaufnahmezentrums für Flüchtlinge im Osten des Landes übernommen hatte. Dieses hatte er nach den gravierenden Mängeln, die in der Verwaltung des Bundes aufgetreten waren, um eine knappe Million Euro auf Vordermann gebracht. Aufgrund des sparsamsten Einsatzes von Mitteln für die Renovierung des Gebäudes und die Adaptierung der Unterkünfte, hatte er bei dieser Einmalinvestition rund die Hälfte des Betrages als Gewinn verbuchen können, was vertraglich auch so vereinbart war. Auch bei den laufenden Kosten für den Betrieb sowie der Bezahlung der Sicherheitskräfte konnte er regelmäßig Gewinne erzielen, so dass er sich ein schönes Sparkonto angehäuft hatte. Sowohl die Regierung als auch die unmittelbar betroffene Bevölkerung jenes kleinen Ortes knapp südlich der Hauptstadt waren darob äußerst zufrieden mit ihm. Deswegen und aufgrund seiner ausgezeichneten Kontakte zur Regierungsspitze empfahl er sich für die Übernahme des Innenressorts, das auch für die Flüchtlinge zuständig war. Seine Vorgängerin hatte aufgrund einer - wie man von Regierungsseite betonte - unglücklichen Aussage über die Asylwerber und unter dem daraufhin folgenden Druck der Medien, der Opposition und der verantwortlichen EU-Kommissarin zurücktreten müssen. Zudem wollte der Herr Vizekanzler, der aus patriachaler Familie stammte, endlich wieder einen Mann an dieser Stelle haben, womit er sich bei der letzten Regierungsbildung allerdings nicht durchgesetzt hatte, was er aber nun schließlich, nicht ohne ein süffisantes Lächeln zu zeigen, nachholte. Gessler war noch dazu kein parteigebundenes Urgestein, er galt als parteifrei, doch dem Recht und der Ordnung nahestehend, also doch quasi parteinah. Die Partei gleichen Namens war erst vor zwei Jahren Teil der aktuellen politischen Obrigkeit geworden, hatte sich als fast gleichstarke Gruppierung mit den nur knapp stärkeren Sozialen - dereinst links, dann links der Mitte und dann plötzlich über Nacht rechts davon, wiewohl per Eigendefiniton höchstens Mitte - ins Bett gelegt und wurde vom Boulevard gerne als Rechts-Soziale Bundesregierung bezeichnet. Manche meinten, sozial-rechts würde es deutlicher sagen, einige wenige gingen sogar soweit, den Regierenden das sozial überhaupt abzusprechen, außer wenn es um die eigenen Taschen ging. K.H. Gessler, kurz KHG genannt, war der charmanteste Innenminister, den die Republik je gesehen hatte. Zudem galt er in gewissen Frauenkreisen als Beau - andere Frauenkreise aber fanden ganz andere, ja gegenteilige Namen. Ebenso galt er als Liebling des Boulevard. Gleich nach seinem Amtsantritt war in mehreren Medien des bedeutendsten Medienkonzerns des Landes eine Homestory erschienen, in der auch seine Verlobte Farina, die Erbin eines großen Stahlprodukte-Herstellers, eine bedeutende Rolle spielte. Auch das Penthouse in bester Zentrumslage der Hauptstadt mit weitem Blick nach allen Himmelsrichtungen wurde ins beste Licht gerückt. Der Mann hatte also Weitblick und Überblick, was ihm als Sicherheitsminister des Landes jedenfalls entgegenkam. Kurz nach Veröffentlichung der Homestory tauchten in einem Internetblog der extremen Linken böse Gerüchte über die angebliche Bisexualität Gesslers auf, deren Verfasser sofort nach Veröffentlichung Besuch von der Exekutive erhalten hatte. Dabei wurden, was keiner wusste, sämtliche elektronische Geräte, unter anderem auch der Radiowecker und der Trockenrasierer des Betroffenen beschlagnahmt und zur kriminaltechnischen Untersuchung zur KTU gebracht. Der Verfasser wurde trotz Protesten seines Anwalts für 48 Stunden in Gewahrsam genommen, seither, obwohl das nun schon mehrere Wochen her war, wurde nichts mehr über ihn bekannt. Diese Gerüchte waren auch der Grund gewesen, warum KHG einen persönlichen Berater engagieren wollte. Sein Pressesprecher war anfangs schwer dagegen gewesen. Es war aus seiner Sicht viel zu auffällig gewesen, jemanden weiteren einzuweihen, wenn sich doch die Aussagen als bodenlos herausgestellt hatten und der Verursacher längst dingfest gemacht worden war. Gessler aber beharrte darauf, er wolle sich nicht ständig von irgendeinem Presse-Fuzzi PR-technisch das Hirn vollwichsen lassen – wie er wörtlich betont hatte - sondern mal mit jemandem reden, der vom richtigen Leben eine Ahnung hatte. Wie er dann gerade auf Peter Donner gekommen war, das war eine weitere jener verworrenen Geschichten, die Donners Leben so gerne schrieb. Also: Farina Maria Ceccarelli, KHGs Verlobte hatte eine Friseurin, der sie sich gerne anvertraute; so sparte sie Therapiekosten und zudem brachte das jedesmal was für die „Fassade“. So hatte ihr Papa, der in seinem Heimatland viel verehrte und gefürchtete Zampano Mario Ceccarelli, seines Zeichens CEO des von seinem Urgroßvater gegründeten Stahlproduzenten Ceccarelli und Söhne, immer zu ihr gesagt, wenn sie im elterlichen Badezimmer stundenlang an ihrem Makeup gefeilt hatte. Ihres Papas Firma war in Zeiten, da sich Europa gegen die Flüchtlingsströme abschirmen musste, um seine Identität nicht zu verlieren, wie der derzeitige EU-Vorsitzende Pitti, ein Landsmann der Ceccarellis, nicht müde wurde zu betonen, groß mit der Herstellung und dem Vertrieb von NATO-Draht für Grenzzäune im Geschäft. Farina also nahm die kostenlose Beratung ihrer Friseuse in Anspruch, zumal sie Seelenklemptner ums Verrecken nicht ausstehen konnte. Von Zeit zu Zeit musste sie einfach mal Dampf ablassen, manchmal einmal die Woche, manchmal, jedoch viel seltener, auch nur einmal im Monat. Diese Friseurin, die auf den Namen Monika getauft worden war aber nur auf dessen etwas kuriose Kurzform Ika hörte, erfuhr von Farina, die von ihren engsten Vertrauten Rinni gerufen wurde, was Ika nicht wusste und auch nicht wissen sollte, sie daher Signorina Ceccarelli nannte, sie erfuhr also, dass Rinnis Zukünftiger jetzt auf den Seelenhund gekommen war und dringend professionelle Beratung brauchte. Beim nächsten Besuch wusste mindestens die halbe Kundschaft davon, jene Hälfte zu der sich auch Susi Wolf zählen durfte. Und Susi hatte der umtriebigen Ika schon länger von ihrem „Therapeuten“ erzählt, der ja eigentlich nur Lebensberater war, ohne jedoch seinen Namen preiszugeben, das sie ihn nur ungern mit anderen Frauen teilen wollte, schon gar nicht mit ihrer attraktiven Friseurin. Von dieser bei ihrem letzten Besuch angesprochen, ob sie dem verzweifelten Verlobten einer guten Kundschaft nicht doch dessen Namen nennen wolle, überlegte Susi kurz. Schon bald wich ihre Sorge, wegen der sie die Geheimniskrämerei um Peter betrieb, den dieser Möglichkeit innewohnenden Chancen. Besonders attraktiv erschien ihr die Möglichkeit, ihrem Lebensberater ein lukrativ anmutendes Geschäft zukommen zu lassen und sich auf diese Weise einmal mehr als unentbehrlich darzustellen. Also gab sie Name und Telefonnummer weiter und schon zwei Tage später hatte Donner eine Nachricht von K.H. Gessler persönlich auf der Mailbox, worin er zuerst um größtmögliche Geheimhaltung und gleich danach um einen sofortigen Termin bat. Ebenso teilte er diesem mit, dass Donner ihm von berufener Stelle empfohlen worden war. Peter stutzte, nachdem er die Nachricht abgehört hatte, vor allem die berufene Stelle machte ihm zu schaffen, hatte er doch bislang weder Kontakt zu Sicherheitsfirmen, noch in die Politik und schon gar nicht zur Partei für Recht und Ordnung, kurz PRO genannt. Er grübelte also, konnte sich vorerst keinen Reim machen, wollte aber doch genaueres wissen, wer ihn da empfohlen habe. Also beschloss er sofort zurückzurufen, und auch dieser Frage auf den Grund zu gehen. Seine diesbezüglich Nachfrage scheiterte aber an der von KHG nochmals geltend gemachten Geheimhaltung, die er ihm mit „Sie wissen ja, die Politik, da ticken die Uhren anders“ zur Kenntnis brachte. So kamen sie zu ihrem ersten Termin und Peter schmiedete die These, er wäre offensichtlich schon in weiteren Kreisen bekannt geworden als er sich jemals erhofft hatte. KHGs Pressesprecher wiederum machte – so wie es seine Art war – aus dem für ihn schlechten wieder mal das Beste. Er machte die Politikern immer wieder angelastete Beratungsresistenz zum Thema, die für Gessler, als Politiker einer neuen Generation, nicht galt. Sollte das Geheimnis also eines Tages an die Öffentlichkeit gelangen, wären mit dieser Erklärung sicher Punkte zu machen, so Pressesprecher Dragomir, der den klingenden Nachnamen Enstein trug, was ihm oft die Ehre zu Teil werden ließ, als Herr Einstein begrüßt zu werden, wogegen er sich niemals wehrte. Nun also stand dieser KHG zu seiner zweiten Doppelstunde vor Donners Türe. Und Donner bereitete sich darauf vor, die ihm in seiner Intuition während der letzten Stunde mit Susi Wolf anheim gefallene Idee vom Coming-out vor laufender Kamera an den Mann zu bringen.
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Dieser Tag hatte es wieder in sich gehabt. Donner entspannte sich gerade mit einem Glas burgenländischen Rotweins, den ihm ein ehemaliger Klient, ein Weinbauer, der ihn vor Jahren wegen seiner Eheprobleme aufgesucht hatte, zum vergangenen Weihnachtsfest per Post geschenkt hatte. Auf der beigelegten Grußkarte konnte man immer noch seine große Dankbarkeit ablesen und auch seine Bewunderung dafür, dass es durch Donners Begleitung gelungen war, einer am Ende befindlichen Beziehung zu einem neuen Frühling zu verhelfen, der immer noch andauerte.
Was Peter bei anderen gelang, misslang ihm regelmäßig im eigenen Leben. Seine Partnerschaften, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, dauerten meist bloß einige Monate, von Frühling war nur in den ersten Wochen die Rede, diesen folgte meist unmittelbar ein stürmischer Herbst, ehe die ewige Eiszeit ausbrach. Von Zeit zu Zeit erreichte ihn von dort noch der eine oder andere Giftpfeil, meist in Form einer SMS oder einer E-Mail. In diesen Momenten brach in ihm ansatzlos die Gluthitze eines Sommers am Äquator aus und er missachtete alle Regeln der Konfliktbearbeitung, die er seinen Klienten regelmäßig wärmstens ans Herz legte. Das Mobiltelefon läutete, am Klingelton konnte Donner erkennen, dass seine Mutter ihn anfunkte. Das ließ ihn einen Moment zögern und erst nach dem fünften Läuten drückte er die grüne Taste am Display – nicht ohne zu hoffen, dass dieser Knopfdruck um das Bisschen zu spät erfolgte, um eine erfolgreiche Verbindung herzustellen. Erfolgreiche Verbindung waren nicht gerade die Worte, die einem einfielen, wenn man die Beziehung Peters zu seiner Mutter kannte. „Donner“ meldete er sich und musste sogleich zur Kenntnis nehmen, dass seine Gebärerin schlechte Laune hatte. „Was ist denn mit dir los?“, startete diese das Gespräch. „Wie kommst du auf diese Frage, Mutter?“, entgegnete Peter. „Was – wie jetzt – ist das eine deiner perfiden Techniken, um deine Gesprächspartner abzuwimmeln. Das zieht bei mir nicht.“ Und nach einem langen Schweigen setzte sie fort: „Du weißt, dass das mit den Gegenfragen bei mir nicht zieht. Ich will jetzt sofort eine Antwort!“ Donner überlegte, ob und wenn ja, was wirklich mit ihm los sei, und noch ehe er zu Ende denken konnte, begann seine Mutter von ihren Problemen mit seinem Vater zu quatschen und es begann eine der üblichen, kostenlosen telefonischen Eheberatungsstunden für die einzige Frau in seinem Leben, die dauerhaft an seiner Seite verweilte. Während sie also das Übliche von sich gab, hing Peter noch seinen Gedanken über die Frage seiner Mutter nach. Auf ihre regelmäßige Rückfrage „Peter, hörst du mir überhaupt zu?“, antwortete er automatisch mit „Was denkst denn du, Mutter?“ Das hatte sich in ihren Telefongesprächen schon seit Ewigkeiten so eingespielt, er wusste auch, an welcher Stelle er was zu sagen hatte und in der Regel endeten diese Telefonate mit Peters Tipp, es doch mal damit zu versuchen, ihrem Ehemann diese Dinge direkt zu sagen. Peters Mutter redete also und er selbst dachte weiter. Nachdem Susi an diesem Tag gegangen war, hatte er das übliche schale Seelengefühl, das andere schlechtes Gewissen nannten. Es war ihm rätselhaft, warum das immer so war. Er kannte das sonst nur von den vielen Telefongesprächen mit seiner Mutter, nach dessen Ende sich regelmäßig eine ähnliche, wenn nicht sogar die gleiche Stimmung einstellte. Der Klient danach, den Susi beinahe umgerannt hatte, war weiterhin in seiner Sackgasse geblieben und nicht bereit gewesen, mal zurückzuschieben und eine der vielen anderen Straßen zu nehmen, die vor ihm lagen. Für Peter waren diese Kunden anstrengend, weil sich so gar nichts bewegte, andererseits waren sie als Dauerbrenner die, die ihm sein Einkommen bescherten. Von diesem konnte er ausgesprochen gut leben, er hatte vor knapp drei Jahren diese Dachgeschosswohnung am Stadtrand gekauft, direkt gegenüber eines großen Tierparks, in dem die großstädtischen Waidmänner regelmäßig erfolgreich ihr Jagdglück versuchten und für ein paar tausend Euro pro Abschuss dank der den Park umgebenden Mauer ein Wildschwein ums andere erlegten. Hier saß er nun auf seinem Sofa, hörte seine Mutter reden und hing den Erinnerungen an den Tag nach. Die Intuition für Gessler hatte er nicht mehr an den Mann bringen können, da dieser knapp vor seiner Stunde abgesagt hatte. Gegen Bezahlung versteht sich. Bei ihm hatte Peter keine Skrupel und er knöpfte ihm das Doppelte seines üblichen Honorars ab. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, erinnerte er sich in diesem Fall an eine der Weisheiten seiner Oma, um nur ja nicht auch in diesem Fall jenem schalen Gefühl zu verfallen, das er um alles in der Welt nicht schlechtes Gewissen nennen wollte. Woher er diese Aversion gegen das Gewissen hatte, war dem Donner immer unklar geblieben. Seine diesbezüglichen autodidaktischen Reflexionen hatten ihn zwar jedes Mal in seine Kindheit zurückgeführt; da vor allem zu seinem Vater, der seiner Mutter nach das ganze Unheil ihres und damit auch seines Lebens war. Aber kaum stand er dann in Gedanken vor ihm, stand er schon so was von an. „... hat er gesagt, dass er mich verlässt ...“ Peter wurde durch diese Worte seiner Mutter flugs aus seinen Gedanken gerissen und traute seinen Ohren nicht. Was er als nächste hörte war: „... das kann er mir doch nach all den Jahren nicht antun. Und du bist mit Schuld, hast du mir doch dazu geraten, die Dinge offen mit ihm zu besprechen.“ Schweigen, dann Schluchzen, dann wieder Schweigen an beiden Mobiltelefonen. Was hatte seine Mutter da gerade gesagt. Er rang mit sich und den Worten, die er nicht und nicht finden konnte. Als er sich gefasst hatte, trat er dem Schluchzen seiner Mutter entgegen. „Du wirst schon sehen, wenn er sich erstmal beruhigt hat, dann werdet ihr eine neue Gesprächsbasis finden. Es ist in der Regel so, dass ein Mensch, der nach so vielen Jahren erstmals mit den Wahrnehmungen seines Gegenübers konfrontiert wird, die so eklatant von seinen eigenen abweichen, einmal den Rollladen runterlässt. Kein Grund zur Sorge, Mutter. Du wirst sehen, jetzt geht’s aufwärts.“ Am anderen Ende der Leitung war das Schluchzen mit einem Mal verstummt. Peter klopfte sich bereits selbst anerkennend auf die Schulter, als das mütterliche Donnerwetter erst richtig losbrach. An dessen Ende hörte er den Satz: “Er hat bereits die Koffer gepackt und ist aus dem Haus gegangen.” Dann wieder Schluchzen. Peter räusperte sich und meinte: “Das ist ein gutes Zeichen, dass die Koffer noch da sind. Da kommt er noch einmal zurück und dann kannst du ihn dann wieder drauf ansprechen ...” “Du bist und bleibst ein Idiot”, replizierte Frau Donner grollend um gleich darauf wieder in herzzerreißende Tränen auszubrechen. Donner wusste nicht wie er sich der mütterlichen Umklammerung entziehen könnte und machte den Vorschlag, dass er mit Vater reden würde. Kurze Zeit später war dieses Telefonat beendet und er tippte die Nummer seines Vaters ins Handy. Es war kein Freizeichen zu hören sondern gleich das Tonband der Mailbox: “Donner hier, wenn du nicht Grete oder Peter bist, dann hinterlass eine Nachricht, ich melde mich wenn ich Lust habe.” „Wow“, dachte Donner, „das war eine klare Ansage!“ Da konnte er noch eine Menge lernen von seinem Vater. Er befolgte wie üblich die väterliche Anweisung, hinterließ also keine Nachricht und goss sich noch ein Glas des wirklich süffigen Rotweins ein. Von einer plötzlichen Melancholie befallen, holte er eines der Fotoalben seiner Kindheit aus dem Bücherregal. Am Buchrücken prangten in goldenen Lettern die Jahreszahlen 1972-1974. Gleich begann er gedankenverloren darin zu blättern. Das waren tatsächlich die goldenen ersten Jahre seines Daseins auf diesem verrückten Planeten, den zu retten er sich schon bald danach verschrieben hatte. Zuerst als umweltbewegter Aubesetzer, der seinen Großvater mit knapp 12 Jahren erfolgreich nach Hainburg begleitet hatte, in seinen langen Lehramts-Studienjahren an der Uni als Mitkämpfer der grünen Studierenden und schließlich- nach mehreren recht zähen Jahren als Deutsch- und Geschichte-Lehrer an einem Gymnasium der Hauptstadt - als diplomierter Sozial- und Lebensberater. Seine Ideale waren vom Großen zum Kleinen geschrumpft und er hoffte, durch die Rettung des Einzelnen die Welt verändern zu können. Nun stand in wenigen Tagen sein Vierziger bevor und irgendwie hatte er das Gefühl, das Leben liefe ihm immer schneller zwischen den Fingern durch. Er stellte das Album zurück ins Regal und rief nochmals seinen Vater an. Wieder das Tonband mit der Stimme seines Vaters. Doch diesmal ignorierte er dessen Aufforderung und las seinem Vater alkoholermutigt und daher ungeniert die Leviten. Der Donner war gerührt.
Eben hatte er eine seiner legendären Intuitionen gehabt. Was für die einen wie ein Lottogewinn war, also praktisch nie im Leben eintrat, stand für ihn plötzlich und unverhofft immer wieder auf der Tagesordnung. Meist in jenen Zeiten, in denen er mit dem einen Klienten, mit dem er gerade arbeitete, völlig anstand, offenbarte sich ihm für einen anderen, der gerade nicht anwesend war, eine bahnbrechende Lösung. Mit Susi Wolf war er wieder einmal am Ende angekommen. Sie saß am Ledersofa und hing seit Minuten angespannt und mit tränenerfüllten Augen an seinen Lippen, um diesen die erlösenden Worte zu entringen. Sein Blick fiel durch die Fenster, an denen der Regen wie Tränen herunterlief, zur Dachterrasse seiner Praxis, streifte das vom Sturmwind zerfetzte Papierschild, das seine Kollegin am rostigen Geländer angebracht hatte, um auf dessen Defekt hinzuweisen und vor dessen Berührung zu warnen, schweifte weiter in die Ferne und blieb am gegenüberliegenden Küniglberg und einer der Machtzentralen dieses Landes hängen. In diesem Moment wusste er, dass er K.H. Gessler zu einem Outing vor laufender Kamera raten musste. Er sprang aus seinem Lederfauteuil auf, nahm das Wasserglas vom gläsernen Beistelltischchen und ging Richtung Fenster. Als er am Sofa vorbeikam und noch bevor er einen Schluck nehmen konnte, fasste Susi Wolf seine Hand und hauchte: “Wir sollten es endlich miteinander versuchen!” Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein ungläubiger Blick traf Susi ins Herz. “Ich meinte ja nur!”, nuschelte sie. Donner atmete tief durch. Er löste Susis Hand, stellte das Wasserglas zurück auf den Tisch und setzte sich ihr gegenüber zurück in seinen Fauteuil. Dann blickt er ihr tief in ihre wassergrünen Augen. “Du hast recht, Susi!”, sagte er entschlossen. “Oh, Peter, meinst du das ernst?”, fragte Susi und dann sprudelte sie los: “Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet. Das ist, als wären die Spangen auf meiner Seele gelöst, eine nach der anderen. Pling. Und: Plong. Und: Plang. Hörst du das?” Donner starrte entgeistert in die Leere. Wo hatte er sich da wieder hineingeritten in den für ihn typischen Pferdegalopp, mit nur einem unbedachten Wort. Dieser spontanen Eingebung konnte er im Moment keinen heilsamen Charakter abgewinnen. Außerdem zweifelte er an der Richtigkeit seiner Intuition, denn Intuitionen haben ein Problem: wenn sie nicht aus der Tiefe des Selbst kamen, waren sie wertlos. Sie schienen dann bloß dorther zu kommen, waren aber mit ziemlicher Sicherheit Ansagen des Über-Ichs. Und wenn man da nicht höllisch aufpasste saß man damit auf der Gegenseite des Himmels, mitten in der großen irdischen Scheiße. So fühlte sich das jetzt an. “Schlaf nochmal drüber und lass uns in der nächsten Stunde weiterreden, nächste Woche selber Tag, selbe Zeit?”. Peter versuchte sich an Land zu retten, ehe ihm die braune Brühe bis zum Hals stand. Aber Susi ließ noch nicht locker. “Wir haben noch zehn Minuten, Peter” rügte sie ihn. Er blickte gedankenverloren auf seinen Aviator, der nur vorgab einer zu sein, weil dahinter eigentlich nichts als eine Batterie und ein Computerchip hausten. Aber er machte Eindruck. Nicht nur auf ihn. “Tatsächlich”, stellte er fest, nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas, räusperte sich und sagte: “Na, dann leg mal los!” Die Wolf nahm das wörtlich. Während sie also ihre letzten zehn Minuten der laufenden Stunde nützte, um Altbekanntes wiederzukäuen, erlaubte sich Donner einen Exkurs in die Vergangenheit, genauer gesagt zurück zu jenem Moment, da er Susi kennen gelernt hatte. Es war noch gar nicht so lange her gewesen, im Sommer vor einem Jahr, da war er beschwingt, frisch verliebt und voller Tatendrang durch den nahe gelegenen Schlosspark spaziert. Plötzlich hatte er ein leises Wimmern gehört. Dazu muss man wissen, dass Peter Donner ein sehr feines Gehör hatte, vor allem für die Zartbesaiteten, Hilf- und Schutzlosen. Dieses hatte er schon vor vielen, vielen Jahren zum Beruf gemacht und damit bislang auch ganz gut verdient, aber noch mehr ausgegeben. Also, ob es nun ein Wimmern gewesen war oder ein leises Schluchzen, wusste er nun nicht mehr so richtig, ganz genau war es auch damals nicht zu definieren gewesen. Zuerst hatte er an das Jammern einer Katze gedacht und hatte seine Aufmerksamkeit schon anderem zuwenden wollen; da war es ihm wieder durch Mark und Bein gefahren und er hatte diesem, wie er meinte, Hilferuf unbedingt folgen müssen. In einer Seitenallee war eine Frau gesessen, in sich zusammengesunken so dass man nur noch den Berg ihres hochgesteckten roten Haares hatte sehen können, der aus der Halsöffnung eines getigerten Mantels herausgeragt war. Dieser hatte knapp über ihren Knien geendet, danach waren sehr schlanke Beine gefolgt, die in eine schwarze Nylonstrumpfhose mit Blumenmuster gehüllt gewesen und in viel zu große, hochhackige Boots gesteckt waren. Donner hatte es bei diesem Anblick direkt an ihre Seite gezogen und so hatte er sich wenige Sekunden später schon neben der – wie sich später herausgestellt hatte – jungen Dame sitzend befunden und ihr seine Hand auf ihre Schulter gelegt gehabt. „Was ist denn so schlimm?“, waren seine ersten Worte gewesen, die er Susi jemals anvertraut hatte. Daraufhin war das Wimmern in ein lautes, haltloses Schluchzen übergegangen, dem ein noch heftigeres und lauteres Schreien gefolgt war. In der Zwischenzeit war die Frau auch anderen zufällig Vorübergehenden aufgefallen. Während einige kopfschüttelnd weiter gezogen, andere schnellen Schrittes dem für sie Peinlichen der Situation entflohen waren, waren auch einige stehen geblieben, um Zeugen der Szene zu werden. Peter Donner war in seinem Element gewesen, er war wie der Fisch im Wasser geschwommen, war ob der wachsenden Zuschauerzahl aufs höchste motiviert gewesen und hatte im nächsten Satz der heulenden jungen Dame den Schutz seiner Lebensberater-Praxis wenige Gehminuten vom Ort des Geschehens angeboten. In diesem Augenblick hatte Susi kurz auf- und er erstmals in ihre wassergrünen Augen geblickt, die wie sich später noch herausstellen sollte manchmal auch wasserblau oder –grau werden konnten. Danach hatte sie sich mit beiden Händen fest an seinen rechten Oberarm gekrallt und das Schluchzen wieder aufgenommen. Es hatte ihn einige Mühe gekostet mit ihr aufzustehen und wegzugehen, da sich das ganze Gewicht ihres Dramas in ihren Körper gelegt zu haben schien. Aber auch diese Herausforderung hatte Peter Donner, wenn auch nicht mühelos, so doch gemeistert. Eine Stunde später war er mit der kompletten Vita von Susi Wolf vertraut gewesen. Das Klingeln der Türglocke holte ihn nun zurück in die Gegenwart. Susi saß mit offenem Mund am Ledersofa, so als wäre sie gerade mitten im Satz unterbrochen worden. Peter sah auf die Uhr, die Stunde war seit 5 Minuten um. Mit einem leise gehauchten „Du verzeihst“ ging er nach draußen um die Tür für den nächsten Klienten zu öffnen. Zurückgekehrt fragte er Susi: „Also, nächste Woche, selber Tag, selbe Zeit?“ Susi stand auf und antwortete schnippisch: „Wenn du meinst …“ Und fort war sie, wieder einmal ohne bezahlt zu haben. Er hörte noch ein überraschtes „Hopsala“ seines nächsten Kunden, den Susi wahrscheinlich gerade über den Haufen gerannt hatte und dann fiel die Tür seiner Praxis lautstark ins Schloss. |
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