Als er erwachte, lag das eben Verblassende vor ihm wie eine unabänderliche Realität. Sein erster Gedanke galt jener weißen Maus, die er als Kind getötet hatte. Bei einem Wettlauf am Wohnzimmerteppich – auf allen vieren – war diese unter seine rechte Hand geraten, gerade in jenem Moment als er mit ihr wieder auf dem Boden aufkam. Vielmehr war er mit seiner rechten Hand über sie gekommen. Da lag sie dann, zuckte noch ein wenig, und das Blut rann in einem kleinen aber eindringlichen roten Rinnsal aus einem ihrer Nasenlöcher. Die Freude war verstummt und die Mutter stand ob der plötzlich eingetretenen Stille hinter ihm, über ihm. Ein zweiter Schock innerhalb von Sekunden war es, sofort entdeckt zu werden. Sein hilfesuchender Blick fand eine Antwort, die eine Frage war und dennoch alles klärte: „Wie ist dir denn das passiert?“ Aber er konnte bloß den Kopf schütteln, damals mit 8, und in ihm kreisten die Gedanken, wie er das seiner Schwester und seinem Vater, der den beiden Kindern die Maus einige Tage zuvor geschenkt hatte, erklären könnte.
Wegen seiner anhaltenden Sprachlosigkeit hob die Mutter die Maus auf und packte sie in Küchenpapier. Er löste sich aus der Starre, die Maus nicht mehr. Er packte die Mutter beim Arm, in dessen Hand sie das tote Lebewesen hielt. Er nahm ihr die verpackte Maus ab, warf noch einmal einen Blick auf diese. Klar war, dass man sich unausgesprochen darauf einigte, dass die Maus unglücklicherweise unter ihn gelaufen war. Man schmiedete ein Komplott, still und heimlich, man band sich aneinander – noch mehr. Mutter und Sohn. Gegen Schwester und Vater. Also schlich man durch die Wohnung, öffnete die Wohnungstür, rief den Lift – ein endloses Warten – bestieg diesen, um im Erdgeschoß den Koloniaraum zu betreten und die Maus in einer der beiden großen Mülltonnen zu begraben. Die Mutter öffnete den Deckel, er ließ die Maus hineinfallen. Sie fiel überraschend lange – die Container mussten vor kurzem geleert worden sein – und schlug mit einem dumpfen Knall am metallenen Boden auf. Die Mutter schloss den Deckel wieder. Man kehrte in die Wohnung zurück. Und er musste kein Wort über das Ereignis verlieren. Seine Mutter erledigte den Rest, informierte Schwester und Vater und sprach von einem Unglück. Weinen konnte er nur für sich allein – und die Schuld blieb. Sie war auch an jenem Tag, da er erwachte, wieder in ihrer ganzen Größe da, verdunkelte sein Leben und brachte ihn zurück in diese alte, längst gelöst geglaubte Abhängigkeit. Auch das eben noch verblassende des vergangenen Traumes tauchte über ihm auf, wie seine Hand damals über der Maus. Wie seine Mutter damals hinter ihm: Er hatte sich nicht ausdrücken können. Hatte nach Worten gerungen, diese nicht gefunden. Vielmehr hatten die anderen ihm Worte in den Mund gelegt. Ein Missverständnis. In seinem Schweigen lag die Zustimmung zu den von den anderen erhobenen Vorwürfen. Er konnte sich bloß an keinen einzigen konkret erinnern. Es blieb nur das abstrakte Gefühl, zwar richtig gehandelt zu haben, damit aber andere verletzt und somit Schuld auf sich geladen zu haben. Nicht aus seiner Sicht, aber aus der Sicht der anderen, die er besser verstehen konnte als sich selbst. Die Verteidigungsrede in seinem Kopf fand keinen Weg durch seine Stimme. Die sorgfältig geplanten Worte blieben ihm im Hals stecken. Er plante weiter, redete aber nicht. Sein Hals schmerzte, weil er sich immer mehr füllte mit diesen nicht gesprochenen Sätzen. Und die anderen steigerten sich in immer neuere, umfassendere Erklärungen für sein Verhalten hinein. Wer schweigt, scheint zuzustimmen (lateinisch). Sie erklärten, wie es gewesen sein musste. Mit jeder ihrer Aussagen wurde alles auch für ihn Realität. Ja, so musste es gewesen sein. Wie konnte er sich bloß so irren. Obwohl er im Inneren einen immer größeren Widerstand gegen ihre Worte empfand, gab er sich ihrer Wahrheit hin, so wie er es gelernt hatte: das eigene verachten, es zum Wohl der anderen opfern. Mit diesem Gefühl war er aufgewacht. Und er wünschte sich nichts mehr als heim kommen zu dürfen, ein Zuhause zu haben, in dem ein anderer ihn schon erwartete, ihn in den Arm nahm und sagte: „Es ist alles gut“. In diesem „gut“ müsste dann jene Erlösung liegen, die ihm das Gefühl gab, ein geliebter Mensch zu sein, trotz seiner Missetaten und seiner Schuld. Obwohl er todmüde war, wollte er nicht mehr schlafen, denn er fürchtete, der Traum würde zurückkehren. Sein unruhiger Blick erreichte zufällig das Fenster zum Hof. In jenem gerade – wie jedes Jahr spät, ja schon gegen Ende der Frühlings - erblühenden Baum, den er da erblickte, erkannte er die Erfüllung jener Sehnsucht. Er setzte sich an den Bettrand und als seine nackten Füße den Boden berührten, war er wieder in die Gegenwart zurückgekehrt. Doch: Hatte er Zukunft?
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Februar 2021
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