Immer schon hatte er sich gewünscht, den Weihnachtsabend am Strand zu verbringen, dabei eher an den Süden gedacht und an die milde, würzige Luft des Meeres und an einen Spaziergang in leichter, lockerer Bekleidung.
Nun schlenderte er am Ufer dieses großen Sees entlang, in der Nähe seines Mökkis im Südwesten Finnlands. Dieses kannte er von seinen Sommeraufenthalten bestens, hatte seinen warmen Nordpol-Stiefel aus seiner Heimat an und war in seine Icepeak-Jacke eingepackt, zusätzlich einen wärmenden Schal um Hals und Mund geschlungen und die Mütze tief ins Gesicht gezogen, so dass nur ein schmaler Schlitz für die Augen übrig blieb. Sehen konnte er ohnehin kaum etwas in dieser nördlichen Dunkelheit, die derzeit fast den ganzen Tag anhielt, obwohl die Wintersonnenwende schon wieder einige Tage zurücklag. Kalt und sternenklar lag diese noch mondlose Nacht um ihn, der wenige Schnee, der Anfang des Monats gefallen war, war längst wieder geschmolzen. So spazierte er also langsam und gemächlich, bloß seine eigenen Schritte und von Zeit zu Zeit das Brechen kleinerer Wellen des Sees hörend, der in der Windstille fast glatt da lag, blieb immer wieder stehen um in das Schwarz, das ihn umgab, zu blicken oder um am Nachthimmel die ihm vertrauten Sternbilder zu entdecken. In seiner Tasche hatte er eine Thermoskanne randvoll mit heißem Glögi, ebenso zwei Stück Roggenbrötchen, ein paar von den von ihm selbst frischgebackenen Weihnachtssternen und eine Aludecke für das geplante Picknick. Sein Kopf war in der klaren Winternachtluft voll mit Gedanken und vor allem Erinnerungen an die Weihnachtsabende seines nun schon mehr als vier Jahrzehnte währenden Lebens. Da gab es diese und jene, aber einen solchen wie heute, den hatte es noch nie gegeben. Er hielt ein weiteres Mal, atmete tief durch und schaltete die Stirnlampe ein, um sein mitgebrachtes Strandpicknick zu genießen. Er suchte das sandige Ufer nach einer passenden Stelle zum Sitzen ab und als er sie gefunden hatte, machte er es sich bequem. Wenig später saß er, mit nun wieder ausgeknipster Stirnlampe da, und genoss die mitgebrachten Köstlichkeiten. Der heiße Glögi dampfte und mit jedem Schluck füllte sich seine Körpermitte mit wohliger Wärme, die nach und nach auch die Gliedmaßen erreichte und schließlich auch seine Wangen erhitzte. Er hatte, um der Kälte vorzubeugen, auch einen Schuss Wodka dazugemischt, was sich jetzt eindrucksvoll bewährte. Der See lag immer noch fast glatt da, die eine oder andere Welle brach sich in unregelmäßigen Abständen am Ufer und die Nacht lag still um ihn. In der Ferne sah man von Zeit zu Zeit das Aufblitzen von Scheinwerfern oder Rücklichtern von auf der Uferstraße fahrenden Autos. Die Welt nahm auch heute ihren Lauf, obwohl doch mit diesem Fest eine Unmenge an Hoffnungen verbunden war, die regelmäßig enttäuscht wurden. Immer wieder hatte er erfahren wie sein Leben vor den Weihnachtsfeiertagen plötzlich an Fahrt aufgenommen hatte, als wäre ein stürmischer Nordwest plötzlich und unerwartet in die Segel seiner Jolle gefahren. Dann hatte er alle Hände voll zu tun, um der neuen Wetterlage Herr zu werden. Diese Dynamik war dann regelmäßig in der Nacht der Nächte zu Ende gegangen, meist mit einem unbefriedigenden Gefühl für ihn. Egal in welche Lebensverhältnisse es ihn verschlagen hatte, irgendetwas stimmte mit diesem Fest nicht - oder mit ihm und seinem Verhältnis dazu. Daraus war auch sein regelmäßiges Sehnen entstanden, den Heiligen Abend am Meer zu verbringen, weit fort von seinem alltäglichen Leben, geborgen in der Ferne mit dem freien Blick auf den Horizont und allein, um endlich eins zu werden mit dem Leben, seinem Leben. Er wollte endlich geboren werden, zu dem werden, was er war, aber immer noch nicht entdeckt hatte. Regelmäßig aber war er abgelenkt worden, hatte sich vielleicht auch ablenken lasse, es hatte immer dann, wenn er gerade das Gefühl hatte, der Durchbruch ins Sein stehe grade bevor, einen Umschwung in seinem Umfeld gegeben, der ihn zum Kurswechsel gezwungen hatte. Die Gründe dafür waren mittlerweile unzählige und die Zeit schien ihm davonzulaufen. Das spürte er jetzt hier am dunklen Seeufer ganz deutlich. Er nahm es wohl auch deswegen so intensiv wahr, weil er zum ersten Mal in seinem Leben wirklich allein war. Kein Mensch, der mit ihm mitgekommen war, um im Mökki die Feiertage mit ihm zu verbringen, auch kein Mobiltelefon, das ihn stören konnte, weil er es einfach abgestellt hatte. In diesem Moment packte er schnell seine Sachen, stand auf und begann weiter zu gehen. Nach einigen Schritten fiel ihm auf, dass er sein Tempo wesentlich beschleunigt hatte, fast so als wäre er in Eile oder auf der Flucht. Er blieb stehen und lächelte. Es gab keinen Grund wegzulaufen. Es gab vielmehr allen Grund jetzt bei sich zu bleiben und auf das zu horchen, was da in den letzten Wochen in ihm heranzuwachsen begonnen hatte. Langsam schlenderte er weiter, in sich und seinen Gedanken versunken, als er sich in etwas verfing, das da am Strand lag. Da er seine Füße nicht befreien konnte, schaltete er die Stirnlampe ein. Er hatte sich offensichtlich in einem dünnen, grünen Bootstau verheddert. Da er die Leine um seine Knöchel nicht loswurde, legte er die Tasche ab und setzte sich in den kalten Sand. Nach und nach gelang es ihm das eine Ende der Schnur, in das er sich verwickelt hatte, loszuwerden. Das andere Ende lag in der Dunkelheit, er konnte es nicht erkennen. Da der Schein seiner Stirnlampe nicht so weit reichte, zog er am Tau bis ein kleiner, rosafarbener am Seil befestigter Styroporquader in Sicht kam. Er schleifte das Ding zu sich heran und nahm es in die Hände. Auf den Quader war mit blauem Filzstift eine Telefonnummer drauf geschrieben. Er untersuchte das federleichte Stück Styropor auf andere Merkmale, konnte aber sonst keine entdecken. Sofort nachdem er die Telefonnummer entdeckt hatte, begann er in seinen Gedanken zu fantasieren. Da fielen ihm die banalsten und die wildesten Geschichten ein, jedenfalls war er mit einem Mal wieder herauskatapultiert aus seiner Welt und gefangen genommen von den Aussichten, die dieser Eintrag ermöglichte. Es waren viele Leben, die ihm durch den Kopf spukten, er wusste nicht, welcher Spur er folgen sollte, er ließ sich dahintreiben und bemerkte gar nicht, dass vor wenigen Minuten der Mond aufgegangen war und den See und die ganze ihn umgebende Landschaft in ein wahrlich gespenstisches Licht tauchte. Viele Minuten, ja sogar Stunden zogen dahin, ehe er der wieder Umgebung und seiner Existenz gewahr wurde. Er stand da am Ufer des Sees, erhitzt von seinen Gedanken und der Kälte trotzend, die Stirnlampe war längst erloschen. Der nahezu volle Mond machte nunmehr alles ganz hell. Er griff in seine Tasche und suchte nach seinem Mobiltelefon, das er für den Notfall mitgenommen hatte. Und um einen Notfall könnte es sich ja auch handeln bei dieser Botschaft, die aus einer Telefonnummer bestand, auf diesem Stück rosa Styropor. Hastig schaltete er das Handy ein, tippte den PIN in die Tastatur und wählte die Nummer. Er musste gar kein Freizeichen abwarten, denn sofort meldete sich eine tiefe, beruhigende aber dennoch seltsam anregende Frauenstimme, die von einladender Musik im Hintergrund begleitet wurde. Er hörte: “Hyvää Joulu-iltaa, sinullekin, yksinäinen mies kylmässä Joulu-yössä, täältä löydät lämpöä, rakkautta ja seksiä. Eikä se maksa kuin 6,66 euroa minuutissa, paina ykköstä ja puhu Tanjan kanssa, paina kakkosta ja Jenni viihdyttää sinua vaikka loppuillan tai paina kolmosta, niin pääset juttelemaan Annelin kanssa. On siis valinnan varaa ... “ , drückte die 3 und überließ sich dem Leben, ließ kommen, was da kommen wollte.
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Es ist so weit. Alle Jahre wieder in der zweiten Oktoberhälfte, dann wenn der Abend eines klaren Herbsttages anbricht, stellt es sich ein: das lila Leuchten. Und es ist nicht nur draußen, weit außerhalb der Stadt zu sehen. Es ist, wenn man einen achtsamen Blick dafür hat, überall zu entdecken, auch mitten in der Großstadt.
Das erste Mal ist es mir vor mehr als 20 Jahren aufgefallen, als ich in den bewaldeten Hügeln im Norden meines Heimatlandes meine Herbstferien verbracht habe. Ich bin mit meinen Töchtern bei einer Freundin meiner Frau, die ebenfalls eine Tochter hatte, zu Besuch gewesen. Sie hat für uns ein feines Quartier zurecht gemacht, das kleine Bauernhäuschen ihrer Eltern, das sein zweites Leben als Touristenunterkunft erhalten hatte. Es ist beschaulich am Rand des Waldes gelegen, abseits einer Forststraße, die kaum befahren gewesen ist. Als ich es am Nachmittag unseres ersten Ferientages in der letzten Oktoberwoche jenes Jahres erstmals zu Gesicht bekommen habe, habe ich den heiligen Schauer und die Verheißung, endlich zu Hause angekommen zu sein, verspürt. Ich habe ihn erst einige Wochen später, als ich mein Leben in der Hauptstadt wieder aufgenommen hatte, richtig deuten können. Die Sehnsucht nach diesem Haus, nach diesem Wald, nach diesen Tagen und nach ihr, die mich seither zumindest einmal im Jahr befällt, ist bis heute lebendiger Ausdruck dieses beeindruckenden Gefühls. Nun waren wir also im Haus angekommen und Melina hat mir die Schlüssel mit einem kecken “Fühlt euch wie zuhause” übergeben. Ihr Blick hatte die eine Sekunde länger gedauert als es belanglose Blicke zu tun pflegen. Damit ist dieser Moment zu einem besonderen Augenblick geworden - im wahrsten Sinne des Wortes. Wir haben uns für einen Spaziergang eine Stunde später verabredet, der dann töchterbedingt, später als geplant, schon in der Dämmerung dieses Tages stattgefunden hat. Er hat uns nur ein kurzes Stück in den Wald geführt, der in dieser Gegend sehr dicht steht, so dicht, dass es meinen Kleinen bald bange geworden ist an jenem Abend. Wir haben unseren Ausflug also sehr bald beendet und uns von Melina und Tochter kurz nach dem Zusammentreffen gleich wieder verabschiedet. Diesmal ist es ihr Händedruck gewesen, der mich noch bewegt hat, als die Mädchen schon im Bett gelegen sind. Er ist mir sehr vertraulich, ja auch vertraut vorgekommen obwohl wir uns doch vorher nur oberflächlich begegnet waren. Meine Frau und Melina hatten einander kennengelernt als auch Melina noch in der Hauptstadt gelebt hatte. Von da an waren die beiden hie und da miteinander unterwegs gewesen, und wir beide hatten uns nur in den wenigen Momenten gesehen, als Melina meine Frau von unserer Wohnung abgeholt hatte. Einmal oder zweimal waren wir gemeinsam mit unseren Töchtern in einem nahen Park gewesen, aber da hatte ich bereitwillig den Kinderdienst übernommen und die beiden Freundinnen hatten das Leben bequatscht. In der völligen Stille des Häuschens, in der ich sogar das Atmen meiner Töchter im Nebenzimmer hören habe können, fernab der alltäglichen Hauptabendprogrammroutine meines großstädtischen Zuhauses, habe ich versucht, dem Sinn dieses Händedrucks nachzugehen. Ich habe mich an dessen Wärme erinnert, ich habe ihn mit anderen Händedrücken zu vergleichen begonnen, ich habe mich trotz aller Bemühungen nicht mehr daran erinnern können, dass meine Frau und ich jemals einen Händedruck gewechselt hätten - und wenn doch, dann sicher keinen solchen. Ich habe mich in diesen Stunden im Fluss meiner Gedanken immer weiter von dort entfernt, wo ich erst wenige Jahre vorher Wurzeln zu schlagen beschlossen hatte. Ich habe zu träumen begonnen, was aus Melina und mir werden könnte, wenn ich diesen Händedruck ernster nähme als er womöglich gedacht war. Erst als meine jüngere Tochter mich mit ihrem albtraumerschreckten Schreien in die Gegenwart zurückgeholt hatte, habe ich wieder auf die Uhr geblickt. Es ist schon weit nach Mitternacht gewesen. Es ist also höchste Zeit geworden, ein paar Stunden Schlaf zu bekommen, um am schon begonnenen Tag einen guten, entspannten Vater abzugeben. Außerdem ist für den nächsten Nachmittag der Besuch einer Vernissage in einem nahe gelegenen Schloss am Programm gestanden, der in Begleitung meiner Töchter sicher auch die eine oder andere Herausforderung zu bieten hatte. Die Nacht ist traumerfüllt und schnell vergangen und ich bin mit dem Gefühl des zeitlosen Jetzt erwacht, das keine Vergangenheit und keine Zukunft kennt, nur diesen Augenblick. Verschwebendes Schweigen als ich ins Innere des Häuschens lauschte, ebensolches als ich’s durchs geschlossene Fenster nach draußen hindurchhorchte. Aber der Tag ist schon angebrochen gewesen, das grelle Licht der Sonne, die schon durch die Vorhänge ins Haus hinein geschienen hat und vor deren Helligkeit ich die Augen zukneifen musste, hat dies eindrucksvoll bezeugt. Nach einer kalten Dusche, die auf meiner Nachlässigkeit beruht hat, dass ich ob meiner Tagträume am Vorabend den Heißwasserspeicher nicht eingeschaltet hatte, hat der Tag schnell an Fahrt aufgenommen. Am Vormittag sind Melina und Tochter plötzlich vor unserem Haustor gestanden. Wir hatten uns eigentlich erst für den Nachmittag verabredet gehabt, um die Ausstellung im Schloss zu besuchen, daher bin ich überrascht gewesen. Es ist aber eine angenehme Überraschung gewesen, die allerdings schnell verflogen ist, als Melina angespannt den Wunsch geäußert hat, ich möge mich um ihre Tochter kümmern da sie noch einen wichtigen Weg zu erledigen hätte. Als Melina auch gegen Mittag noch nicht zurück gewesen ist, habe ich schon mal für die Mädchen und mich Spaghetti gekocht. Ich habe sogar eine Portion mehr gemacht, falls Melina nach ihrem wichtigen Weg hungrig ins Häuschen zurückkehren würde. Bloß gekommen ist sie nicht. Also habe ich den Mädchen auf dem Sofa in der Wohnküche eine Mittagspause verordnet, die sie nur leidlich angenommen haben. Immer wieder habe ich die drei zur Ruhe mahnen müssen, während ich im Schaukelstuhl vor dem Kachelofen meinen sorgenvollen Gedanken nachgehangen bin, wo Melina denn um alles in der Welt solange bliebe. Und dann hat es plötzlich an der Türe geklopft und die Mädchen sind sofort drauf los gestürzt, um der endlich zurückgekehrten Melina zu öffnen. Sie hat sehr mitgenommen ausgesehen, als sie ins Häuschen getreten ist, hat aber kein Wort über das in den letzten Stunden Erlebte verloren. Ihre Tochter hat mir dann mit ihrer Frage nach ihrem Vater einen Hinweis gegeben, so Melina die letzte Zeit verbracht haben könnte. Weder hat sie die für sie aufgehobenen Nudeln essen noch einen Kaffee trinken wollen, vielmehr hat sie ihre Tochter schnell angezogen und ist stante pede aufgebrochen. Kein Händedruck, kein weiterer Augenblick, ich bin verloren im Vorraum gestanden, von einem unbestimmten Schmerz erfüllt. Meine Töchter aber haben mich rasch wieder in den Alltag geholt. Die Fahrt zum Wasserschloss im Nachbarort wenige Stunden später in Melinas Wagen ist dann großteils schweigend verlaufen, also zumindest was uns Erwachsene betroffen hat. Die Mädchen haben sich auf der Rückbank des Wagens köstlich amüsiert und sind auch während der Vernissage noch recht überdreht gewesen. Dort angkommen sind wir den Bildern gefolgt, haben einen Raum nach dem anderen begangen, und haben mit den Kindern mehr zu tun gehabt als uns lieb gewesen wäre. Die Bilder jener Künstlerin, deretwegen ich mich schon so auf diesen Nachmittag gefreut hatte, haben nur Schatten geworfen, aber keinen lebendigen Eindruck hinterlassen. Irgendwie ist über alldem auch Melinas Stimmung gelegen, die ich nicht deuten habe können und zu der sie mir auch keinen Zugang verschafft hat. Auf der Rückfahrt dann, in der Dämmerung dieses klaren Spätoktobertages, sind wir direkt in einen beeindruckenden Sonnenuntergang hineingefahren. Die dunklen Wipfel der Wälder haben sich an einem tiefblauen Horizont abgezeichnet. Ein paar Schleierwolken haben die orangerote Sonne beim Untergehen begleitet. Als die Sonne am Ende der Ebene zu verschwinden begonnen hat, hat sich das Rot ihrer letzten Strahlen mit dem Blau des Himmels vereint und mir zum ersten Mal in meinem Leben das lila Leuchten beschert. Auch Melina ist von diesem plötzlichen Farbwechsel am Himmel aus ihren Gedanken erwacht und hat das Auto an den Fahrbahnrand gefahren. Wir beide sind unter dem Protestgeschrei unserer Töchter aus dem Auto gestiegen und haben uns das beeindruckende Schauspiel da draußen angeschaut. Als wir beide so auf der Kühlerhaube des Pkws gesessen sind, hat Melina plötzlich meine Hand genommen und leise und bedächtig vor sich hingemurmelt, dass das Leben doch schön wäre. Ich habe zu ihr hingeblickt, während sie immer noch meine Hand gehalten hat. Sie aber ist in seltsamer Übereinstimmung mit diesem Augenblick ins Lila des Abendhimmels versunken gewesen. Nun stehe ich hier am Fenster meiner Wohnung am westlichen Großstadtrand. Heute, in dieser Dämmerung Anfang November ist es - wie schon so oft seit jener Zeit - zurückgekehrt das lila Leuchten des Abendhimmels. Es entführt mich auch diesmal zu jenem Augenblick mit Melina am Straßenrand auf unserem Heimweg vor vielen Jahren. Es weckt auch heute wieder diese Geborgenheit des Zuhauseseins in Melinas Häuschen, das Einssein mit mir und der Welt, das ich damals zum ersten Mal so deutlich empfunden habe. Melina habe ich nach diesem Moment in den ersten Jahren noch das eine oder andere Mal gesehen, meist in Begleitung jenes Mannes, des Vaters ihrer Tochter für den sie damals ihren mir noch immer unbekannten Weg auf sich genommen hatte. Seit meine Töchter erwachsen geworden sind und ich von meiner Frau getrennt lebe, habe ich die Wälder des Nordens nie mehr besucht. Ich habe diesen Augenblick, der mir für immer gegenwärtig sein wird, niemals aufzuscheuchen versucht: Das Zuhause in den waldigen Hügeln im Norden und Melina mit ihrem sanften, lange währenden Händedruck und ihren Worten beim Blick ins und unserem gemeinsamen Sein im Lila jenes Abendhimmels. Tim nervt. Vielleicht, weil er ohne Struppi unterwegs ist. Vielleicht auch, weil er ständig „sozusagen“ sagt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.
Der blonde Haarschopf, okay. Aber dann: Nerd-Brille, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schnürschuhe und kanariengelbe Socken. Und ein weißes Smartphone, das er in der linken Hand hält und auf dem er, auch während er redet, ständig mit dem rechten Zeigefinder tippt und mit dem linken Daumen wischt. Es stimmt mit ihm ne ganze Menge nicht. Und er heißt Niki. Die Sitzung zieht sich schon viel zu lange hin, ich denke an den bevorstehenden Saunaabend mit meiner Männerrunde. Niki ist kein Teil davon. Und das ist gut so. Grade eben hat er wieder „sozusagen“ gesagt. Ich find ihn sozusagen Scheiße. Irgendwie schleimt er. Aber wen will er damit beeindrucken? Die Hagere, deren linker Mundwinkel sich seit unserer letzten Begegnung vor einigen Woche noch tiefer nach unten gezogen hat - Richtung Schlaganfall sozusagen – und die grade irgendetwas von Bewerbungsfotos im Bikini faselt, mit denen sie überhaupt nicht einverstanden wäre. Ihr diesbezügliches Foto wäre jedenfalls nicht beeindruckend genug, denke ich. Ach, Katrin! Oder den Vertreter der Geschäftsleitung, Jean, Sakko, gestreiftes Hemd, einen dicken goldenen Ehering, ein großes schwarzes Smartphone, mit dem Nikis nicht mithalten kann, auf das er von Zeit zu Zeit dezent blickt und hie und da noch dezenter tippt. Auch sein Wischen ist nur ein ganz klein wenig in die eine oder andere Richtung verlängertes Tippen. Joe - wie er sich nennen lässt – hat kurze an den Spitzen schon ergraute Haare, die er Mitte rechts gescheitelt hat. Das erzeugt eine lustige Welle in seiner Frisur, da die Haare zuerst noch gegen den Scheitel wachsen und sich dann erst in einem hohen Bogen dem Diktat ihres Besitzers beugen. Tränensäcke unter seinen Augen komplettieren das Bild eines verbrauchten Mittvierzigers, der sich Hoffnung auf mehr macht – und das wahrscheinlich schon zu lange. Auch er kein Typ für meine Männerrunde. Niki, Katrin und Joe sowie eine Gruppe von grauen, namenlosen Frauen und ich. Eine bunte Truppe von Söldnern im Dienste der Unternehmung Mensch. So lautet einer der Slogans der Werbeschiene dieser Firma, die sich um die Weiterbildung von Menschen kümmert und dabei ihre Mitarbeiter nicht vergisst. Zumindest fast nicht. Und die öffentliche Hand zeigt sich sehr dankbar, offen und spendabel. Wir müssen darauf achten, dass alles korrekt abgerechnet wird und in die richtigen Kanäle fließt, sagt Joe. Wie recht er hat. Die Kanäle in der obersten Etage sind sozusagen etwas breiter als jene, in denen wir schwimmen dürfen. Aber man muss doch auch auf die Bedürfnisse der Zielgruppe Rücksicht nehmen, meint Tim, äh Niki und das diesmal ganz ohne „sozusagen“. Meint er das jetzt ernster als seine anderen Sprüche? Sympathischer macht es ihn mir nicht. Die Diskussion, die nun entsteht, beehre ich mit der Bemerkung, dass ich glaube, dass wir ohnehin an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbeiproduzieren, weil „die brauchen ganz was anderes“. Kurzes Schweigen. Ich bin erschrocken, weil ich hoffte, dass dieser Einwurf ohnehin nicht wahrgenommen würde. Die Pause im Gequassel dauert nur kurz, Joe schickt noch einen ernsten Blick in meine Richtung, Niki nickt. Wie hab ich das verdient? Er greift das Argument sogar auf und startet eine Grundsatzdiskussion, in der sich vor allem die Hagere als Rächerin der Enterbten entpuppt. Und als eine der Frauen, die bei den derzeit entwickelten Konzepten überhaupt zu wenig berücksichtigt würden. Ich freue mich, dass ich Niki ins Rennen für die gute Sache geschickt habe und denke an den Saunaabend. Da wird die gute Laune fließen wie Schweiß und Bier. Da wird das Leben gefeiert als gäbe es kein Morgen. Da werden Geschichten erzählt wie sie das Leben niemals schrieb. Da wird die Männerfreundschaft zelebriert als wären wir das wirklich starke Geschlecht, gegen das keiner ankommen kann. Da werden Siege vorgeführt, die niemand außer dem Erzähler mitgekriegt hat. Oh gute, starke Männerwelt. Was wäre Mutter Erde ohne dich? „…sind auch nicht ganz ohne!“ „Bikini?“, frage ich mich. Erst dann kriege ich mit, dass die Aufmerksamkeit der ganzen Truppe auf mich gerichtet ist. Ich bewege den Kopf langsam auf und ab, als wollte ich nicken, bin mir aber nicht ganz sicher, was man jetzt von mir erwartet. Da hilft nur ein Gegenangriff: „Und wie siehst du das, Tim … äh, Niki?“ Überraschung in der Runde. Niki rudert mit den Armen, rutscht unruhig am Sessel hin und her und pariert meinen Angriff mit den Worten: „Was konkret meinst du damit?“. Ich gebe mich noch nicht geschlagen und fordere ihn nach einer kurzen Pause mit den Worten „Na ja, das soeben Gesagte oder etwa nicht?“ heraus. Wie lange wollen wir jetzt noch Ping-Pong der Worte spielen, denke ich. Niki hat keinen Spaß mehr daran und zieht sich beleidigt in sein Schmollwinkerl zurück. „Ach, was weiß ich, sollen die anderen was sagen!“ Touché! Ich nippe an meinem Glas mit Juice und lehne mich mal entspannt zurück. In meinem Mund verwandelt sich die Flüssigkeit in herrlich kühles Bier und um mich herum mutieren die grauen Mäuschen zu einer illustren Damenschar im Saunabuffet. Ich bin verblüfft, da ich doch den Anspruch habe, ernsthafte Gedanken zu wälzen und mich nicht vom Treiben der Welt verführen zu lassen. Also konzentriere ich mich nochmals auf Niki, der jetzt sehr verkrampft und mit verschränkten Fingern in seinem Sessel lehnt. Woran er wohl gerade denkt? Wäre er tatsächlich Tim hätte er sicher eine andere Lösung für seine Situation. Er würde auf den Tisch hüpfen und den Überraschungseffekt zu einer spektakulären Flucht durch das Fenster und über die Fassade nützen. Unten würde schon Struppi auf ihn warten, um eventuelle Verfolger zu verbellen. Aber so bleibt er einfach sitzen und lässt sich das alles gefallen, der Niki. Niki ist eben doch nicht Tim. Mein Beitrag zum FM-Wortlaut 2015 die nacht. der schuss. das schreien. erst seins. dann ihrs. wild er. erschrocken sie. er fällt, bleibt liegen. sie rennt, fällt und rennt wieder. wund er. verwundert sie. sein atem schwer, der ihre schnell, begegnen sie einander, in ihren wäldern, wieder - nach drei tagen langer zeit.
warst wirklich du das nachts da draußen? du und nicht sie, die vorzugeben du mir schienst? Warst wirklich du des nachts da draußen in den wäldern hinter unserer hütte, in der wir uns zum ersten mal geliebt? konntest du mich tatsächlich so hinters licht führen wie damals auf die lichtung, auf der wir uns zum letzten mal geliebt? würdest du es wirklich wagen, das was uns einmal heilig war, auf diese weise zu entehren? wärst du jetzt noch an meiner seite und nicht dagegen, wenn wir drei tage vorher die auseinandersetzung nicht gehabt. nur wegen ihr, die vorzugeben grade eben die wälder du durchschlichen hast um mich endgültig zu beschämen? sein blick – die vielen fragen. und dann ihr blick - ein einzig fragen. und ihr entsetzen, welchen bock sie da erlegt. wie konntest du nur diese frage stellen, die eine, die nie zu stellen wir versprochen? wie nur, aus welcher kraft hast du dies „sie oder ich“ der dunklen lichtung mitten in das antlitz spucken können? in deins, in meins. wolltest du mit füßen treten, was uns verbunden hat, wolltest du bloß zerstören, auch mich, auch dich, uns - sie? wußtest du nicht, dass auch vergangenes niemals durch gegenwart vergeht? auch wenn sich seine lippen nur schwach bewegen lassen, bewegen sie ihr herz – und weh wird ihr um diese liebe, die sie mit einem schuss ins dunkelblaue für alle mal beendet hat. warst du bei dir in dieser nacht, ganz du, ganz selbst? scheinst du nur außer dir zu sein? wäre ich nicht hinters haus gelaufen, als ich die schritte hörte, ihre, deine, hättest du dann mut gehabt, mir drinnen zu begegnen im licht der kerzen, die ich für unser erstes treffen hier besorgt? besorgter ringt er um die worte, die gurgelnd nur aus seiner kehle flehen. sie legt den zeigefinger ihrer rechten auf seine lippen. und mit der linken streicht sie ihm durchs haar. wieso jagt eine da die andere, von der sie nichts zu fürchten hat? warum will mensch des andern wolf sein, was wolf dem wolf nie wagen würde? magst du da draußen im blute unseres lebens liegen, dicht neben ihr, nah neben mir? hast du den plan gehabt, mich zu bekriegen, in dem du mich auf diese weise kriegen wolltest, um auszuweiden bei lebend’gem leib mich, um ausbluten zu lassen mein herz, die leber unserer lieb’ zu rauben? wie konntest du gesetz und ordnung unserer verbindung so verletzen, die wir uns untertan gemacht auf dieser lichtung vor jahr und tag für immer? wolltest du fortan nur gesetzlos leben – den wäldern outlaw jane calamity? sein blick schweift ab. und Ihre hände nutzen den augenblick und fassen seine – mit einem ruck zerrt sie den überraschten die meter weiter bis zu einer kuhle, in der es sich beenden lässt. weidwund ist todgeweiht. erinnerst du nicht mehr die stunden, in denen blut floss, schnell, so schnell, dass dein, mein atem dem eines jagenden, gejagten tieres glich? denkst du nie mehr an die erschöpfung nachdem getan war, was getan sein musste, getan für mich, für dich, doch nicht vorbei? wagst du dich jemals noch an diese grenzen, die du mich überschreiten hast gelehrt, das eine um das andere mal, weit, tief ins unvertraute, unbekannte? kennst du den weg noch, den zurückzufinden wir nie und nimmer schaffen konnten trotz anderslautender versprechen? weißt du nicht mehr, als mein vertrauen brach zum ersten mal und ich mich des vertrauens nicht würdig fand obwohl du mein vertrauen hast missbraucht? bist du dir all der irrwege bewusst, die wir arterien gleich ins dickicht zogen? meinst du nicht auch, dass wir darin das herz verloren, du, ich, von nun an herzlos, blutleer, kalt und frierend bar jeder hoffnung auf unseren lebensstraßen zogen? Hattest du mein gefühl, dass wir der zukunft starben an dieser lichtung, so dunkel wie die nacht? er schließt die augen, erstmals seit jenem schmerz, der herzsüdwärts all seine glieder flammendrot durchzog. und sie bedeckt sehenden auges, so gut dies in der dunkelheit gelingt, den schmerz mit laub vom letzten herbst, der früher kam als ihre sommerlaune wollte. was willst du noch, bevor das auge bricht, mein dein? willst du es wissen, wieder, wieder, wieder? “ich oder sie”, “ich oder sie”, “ich oder sie”? wie oft noch? willst du die antwort auf die eine frage mir aus der kehle pressen, röchelnd in meinem letzten atemzug? weißt du, dass es auch dann niemals gewissheit geben wird, du dir nie mehr gewiss sein kannst? hast du nicht schon genug gelitten an ihr, mir und dir selbst? ist frieden möglich in diesem heißen krieg, ist es die ruhe nach dem sturm? kennst du die folgen von „ist blut in wallung“? folgt darauf nicht erst recht verfolgung? bist du dir deiner sache sicher, der sicherheit, der meinen und der deinen? kennst du das schicksal bergers noch, der heute noch mit leerem blick die welt bestaunt vom pflegeheim da oben, nachdem er alle mit sich sterben lassen wollte aus seines großen vaters büchse? willst du davor nicht meiner vielen fragen noch red’ und antwort stehen? er reißt die augen auf im stöhnen der sonne mondlicht glänzt in diesem blick, bevor er, es für alle mal erlischt. sie deckt die augen zu mit ihren händen und fragt sich wieder, wieder, wieder: „sie oder ich?“, „sie oder ich?“, „sie oder ich?“. und wenn schon sie mit ihm, die liebe ihres lebens, durch ihre hand in dieser dunkelheit verging, dann kann sie gleich ihr leben löschen und deren, die all das verdarb. die flinte ist noch heiß, zu schad’ fürs korn, die nacht noch jung, und einer wilderei kann eine andere folgen, weil sie sich letzlich durch sich selber sühnt. Mein Beitrag für den FM4-Wortlaut 2014 dedicated to Michael Glawogger
Es begab sich in jenen Tagen da eine lachsrosa Tageszeitung, die deren sie verschlingende Bobos aufs Äußerste goutierten, in der Chronik „Haarige Schnitzel mit Schimmelpilzen“ titelte. Ein Aufschrei ging durch das Land, zumindest durch das Achtel im Osten und dort zumindest durch das Lager der fernreisedurstigen daheimgebliebenen Neubauer. Aber man glaubte es kaum, jener Artikel schlug so hohe Wellen wie sie die Malediven nur bei Tsunamis gesehen haben. Und schon bald erklang ein Ruf durchs ganze Land, in dessen Süden die Sonne schon vor geraumer Zeit vom Himmel gefallen war und dunkler Smog seither nicht nur dort den einst blauen und dann orangen Horizont schmierig überzog. Der Ruf gemahnte an andere, längst verflossene, aber nie vergessene und schon gar nicht vergangenheitsbewältige Zeiten: „Hol' uns hier raus!“ Ja, es gab viele, hatte viele gegeben, in dieser Insel von einem Land, die im Lauf einer mehr als tausendjährigen Geschichte diesem Ruf zu folgen vorgegeben hatten: wer erinnert sich nicht an die Großen aus Babenberg (die vielen namentlich nur mehr durch die samstagnächtlichen Tanz-Events in der gleichnamigen Passage am Ring bekannt waren); und jene von und zu Habsburg, die unsere Ahnen aus den engen, muffigen Stuben des Landes in die große weite Welt geführt hatten, bewaffnet und voller Zuversicht zum auserwählten Volk der künftigen Weltenherrscher zu gehören. Doch es bluteten nicht nur die Nasen, vielmehr floss das Blut aus allen Körperöffnungen und so mancher Skalp lag haarig im Staub. Aber nach dem furchtbaren Gemetzel bluteten auch jene, die besaßen. Sie, die Kriegsgewinnler, mussten sich von allem trennen und schworen Rache. Gemeinsam mit denen, die immer schon Dreck gefressen hatten, verschworen sie sich. Ja, sie schworen sich auf einen kleinen Braunen ein, einen Deutschen, der zufällig in Österreich geboren worden war und für den es vorerst hier zu nichts gereicht hatte. Aber das Schicksal war gnädig und so öffneten ihm die Verschworenen Tür und Tor. Er durfte ohne Widerstand passieren. Nach einer die massenhaft vereinfachten Gemüter des Volkes begeisternden Rede am Platz jener Helden, vornehmlich derer aus Habsburg, durfte er uns verteidigen und endlich zurückschießen. „Denn auf uns wurde mehr als genug geschissen in den Jahren davor.“ Er sollte der letzte gewesen sein für viele Jahrzehnte, ehe im Land ein neuer Stern, nein jene neue Sonne aufging, die nicht nur im Süden viel von sich reden machte, namentlich mit einer ordentlichen Beschäftigungspolitik für das Heer derer, die der Staat verwahrlosen hatte lassen. „Hol uns hier raus!“ „Lieb' Vaterland, magst ruhig sein, der Wächter steht am Inn!“ Oder doch bloß an jener Furt an der Glan?“ Er hörte den Ruf. Er kam. Niemand wusste woher. Er kam an jenem Tag, da der Tagesspiegel in Berlin von einem Ereignis berichtete, das sich kurz davor im Naturkundemuseum in Potsdam abgespielt hatte. Der Museumskäfer war aktiv geworden. Besser gesagt seine Larve, eine Raupe. „Haarig und hungrig“ fraß sie sich durch das gesamte Museum, köpfte Hornissen, fraß Eichhörnchenfelle und Flamingofüße. Er kam von Norden her, jedenfalls über Deutschland. Von noch weiter nördlich, meinten Experten. Wenn der Tod schon ein Meister aus Deutschland ist, kann denn von dort auch Gutes kommen? Was zu bezweifeln war … Anfangs war er nur wenigen bekannt und zwar jenen, die den Autostopper kurz nach der Grenze aufgabelten und nach Linz mitnahmen. In Linz beginnt‘s – eine gar nicht so alte Weisheit aus einem nun schon wieder vergangenen als tausendjährig geplanten Reich. Aber warum alle Hoffnung fahren lassen? Er ließ sich am Platz vor dem alten Dom absetzen. Das, was von ihm in Erinnerung blieb, waren seine gelockten tiefblonden Haare und sein klarer, blauer Blick. „Wär' ich von Haar ich würd' mich locken.“ Harry, seit seinem dritten Lebensjahr vollends erblondet, pflegte das, was ihn ausmachte. Und wie es ihn ausmachte. Er sprach nicht viel, doch kaum einer, geschweige denn eine, konnte an ihm vorbeigehen ohne stehen zu bleiben, meist mit offenem Mund oder hängenden Lippen, die schon lange nach etwas hungerten, vornehmlich nach einem wie ihm. Viele wollten Haar sein, er war es. Seine Präsenz hatte etwas Gegenwärtiges, ja auch etwas Heilsames. Jeder, der ihm begegnete, begann zu wünschen, auch die, die ihr Leben schon längst dem wunschlosen Unglück preisgegeben hatten. Es war fast wie zur Kinderzeit als man die Tage bis zur Weihnacht zählte und Wunder in der punschgeschwängerten Luft lagen. Kaum war er einem ein wenig vertraut, war er auch schon wieder verschwunden. Dennoch ereignete sich so manch Wundervolles. So löste er eine komplizierte Beziehung in Schärding am Inn in Wohlgefallen auf, beide gingen ihrer Wege ohne aneinander Rache zu nehmen. Oder er ließ in Bischofshofen einen Schüler so auf die Bahngleise laufen, dass er rechtzeitig stolperte und der Zug donnernd an ihm vorbeifuhr, während er so da lag, aber nicht über ihn drüber. Statt in Stücken geborgen werden zu müssen, lief der Schüler im Schock zum nächsten Arzt, wo eine Bänderzerrung im Knie diagnostiziert und entsprechend behandelt wurde. Von nun an hatte der Bursche die Einser auch ohne die Hiebe seines Vaters gepachtet. Ebenso blieb durch ihn unentdeckt, dass ein Krankenpfleger den Wunsch der todkranken Hermine aus Hainburg an der Donau erfüllte und sie in überdosiertem Morphiumrausch ein happy end finden konnte. Auch blühten im Dezember die Primeln auf der Wiese hinter dem Schloss von Totzenbach. Noch vieles nahm durch ihn, in und nach seinem Beisein, einen anderen Lauf, obwohl es zuerst prekär, heikel, fatal, beängstigend, beunruhigend, verfänglich oder brenzlig, also ganz einfach haarig schien. In den Medien fand vorerst nur eine seiner Taten Niederschlag, wiewohl sie dort nicht mit ihm in Verbindung gebracht wurde. Ein wenig strammer Max aus Tirol hatte Zweifel am Wehrdienst. Da sein aber sehr wohl strammer Vater, Unteroffizier im Heer, durch seine ebenso strammen Leistungen schon vor der Zeit den für ihn höchstmöglichen Dienstrang erklommen hatte und sich Seargent (zu deutsch: Vizeleutnant) rufen ließ, hatte Max noch größere Zweifel, ein Zivi zu werden. Er trat seinen Dienst an. Vor der ersten Waffenübung aber desertierte er. Desertion war auch in kriegslosen Zeiten wie diesen ein schwerwiegender Tatbestand nach dem Militärstrafgesetz. Es drohte Haft zwischen sechs und sechzig Monaten. Sein Vater tobte, was Max allerdings weniger betraf als die Mutter, die ihre Schläge für den durch ihre Erziehung Missratenen kassierte. Ferner setzte der Vater sich für eine ausgeprägte Suchaktion seitens der Militärpolizei ein und versuchte die Gerichtsbarkeit zu beeinflussen, keine Milde walten zu lassen. Max begegnete Harry auf der Flucht vom Inn zur Etsch. Harry riet Max sich zu stellen, denn der zweite Absatz des Paragraphen neun MilStG (sprich: Mil-Es-Te-Ge) stellte Gnade in Aussicht. Und so geschah es. Maxens strammer Vater erlitt eine empfindliche Niederlage. Der in diesem Fall um nichts weniger stramme Sohn, der sich erstmals für seine Rechte und seine Bedürfnisse, also für sich selbst einsetzte, wurde begnadigt, die Strafe wegen unerlaubter Abwesenheit nur bedingt ausgesprochen. Ferner wurde er – zwar unehrenhaft (aber was bedeutet schon Ehre in unseren treulosen Zeiten) – aus dem Militärdienst entlassen. Er trat seinen Wehrersatzdienst an einem Pflegeheim der Innsbrucker Caritas an. Harry und Max waren von nun an beste Freunde. Sie saßen oft zusammen in den Szenelokalen der Innsbrucker Innenstadt und brüteten über Plänen für eine sonnigere Zukunft. Nicht null-achtfünfzehn sollte die sein – wie ein drittes Reich sie propagiert hatte, nein, sie sollte das ganze Land erfassen und zu dem machen, was ihm schon lange zustand: ein unzählbares Reich einer niemals mehr untergehenden Sonne. Hairy and strong. “No more listening the new told lies.” “No more wearing smells from labaratories.” “No more facing a dying nation of moving paper fantasy.” Und schon gar nicht: “Walking proudly in our winter coats.” „No more …” Vielmehr: „Life is around and in you!“ Yes! Von da an kam Bewegung in die Lande. Einige wenige als zuerst noch Gutmenschen titulierte fanden sich. Sie trieben es bunt und fantasierten without drugs but in fever. Doch die Bewegten bewegten. Sie gewannen vor allem Künstler für Ihre Pläne, es bildeten sich Aktionskomitees und alles lief auf einen großen Marsch auf die Hauptstadt hinaus. Wien wollte erobert werden und damit das Zentrum des Landes. Dort musste der Umsturz seinen Anfang nehmen. Man plante ein großes Open Air Konzert am Heldenplatz mit Ansprachen der Protagonisten der Bewegung, ein Lichtermeer der Hoffenden und Glaubenden, ein Lichtermeer der Entnebler und Entkalker, ein Lichtermeer der Lichtbringer und Lichtblicker. Während der Vorarbeiten formierte sich an der einen oder anderen Stelle im Land die Opposition der Enthaarten. Gefunden hatten die sich über ein Online-Forum des deutschen Wochenblattes Spiegel unter dem Titel „Wir machen uns mal frei – Haarige Fragen.“ Dort hatten sie sich zuerst bloß über Intimrasur und die schmerzloseste Form der Enthaarung aller möglicher und unmöglicher Körperstellen ausgetauscht. Dann aber kam die Sprache zunehmend auf die schmerzvollen Ereignisse im Nachbarland, aus dem sich dann auch immer mehr Poster an der Diskussion beteiligten. Ihr Schlachtruf lautete bald wie der Titel des Forums. Den Untertitel allerdings veränderten sie in „- von diesen haarigen Affen“. Doch der Widerstand kam in der blond-geblendeten Öffentlichkeit nie richtig an. Selbst die Natürlichsten unter den politisch Bewegten wurden innert Wochen ein weiteres Mal unterwandert. Zuerst war es die vatikanische Kirche des Landes gewesen. Diese hatte mit ihrer Mordsmentalität bereits andere Kaliber dahingerafft. Zu Beginn den gekreuzigten Heiland, in der Mitte die Ungläubigen aus dem Morgenland und am Ende die reifende Persönlichkeit. Nun schafften Harry und die Haarigen dieses Kunststück mit ganz anderen Mitteln aber ebensolcher Wirkung. Obwohl die Natürlichen zuerst mit den Enthaarten sympathisiert hatten, liefen sie in Scharen zu Harry und den Seinen über. Da war es um die Gegenwehr endgültig geschehen. Die Vorbereitungen auf den größten Event des Jahres waren schnell weit gediehen. Die Bühne sollte unter jenem geschichtsträchtigen Balkon der Neuen Burg Platz greifen – und sie griff. Als der Abend des besagten Tages kam, waren Max und Harry voller Euphorie, sie hatten Menschen aller Schichten, Klassen und Rassen in Bewegung gesetzt, sie mussten damit rechnen, dass der Platz des Platzes niemals reichen würde – und sie hatten in ihrer bis dahin gewachsenen Allmächtigkeit schon mal vorweg den Durchbruch verkündet. Den Durchbruch der Sonne. Nachdem die Massen von den Rhythmen der Musik und der Reden richtig heiß und ergriffen worden waren – schon seit 75 Jahren hatte es hier keine solche Bombenstimmung mehr gegeben -, betrat Harry jenen Balkon den vor vielen Jahrzehnten ein noch größerer Führer kleiner als er erklommen hatte und öffnete seine Lippen, an denen alle schon minutenlang hingen. Er hob an zu sprechen und die Worte, die seinen Stimmbändern entsprangen, erfüllten die Herzen der Hörenden mit so viel Freude, mit Jauchzen und Jubilieren wie sie die Welt schon lange nicht mehr ergriffen hatten. Es tönte kräftig und unüberhörbar: „Let the sun shine in“. Es war kaum zu begreifen. Jene, die wirklich guten Willens waren, konnten den ersten, winzigen, vereinzelten Sonnenstrahl sich durch die durch Jahre verdichtete Smogschicht Bahn brechen sehen, ein wenig dergestalt wie eines dieser Haare auf Harrys Kopf. In einer Wohnung, die in einem Haus nahe des Platzes lag, sprach Frau Zittel, die Wirtschafterin des verstorbenen Professor Schuster, zu Herta, dem Hausmädchen: „Frau Zittel Frau Zittel schrie er und lief ans Fenster. Sehen Sie den Heldenplatz, den ganzen Tag hört sie das Schreien vom Heldenplatz, den ganzen Tag, fortwährend fortwährend fortwährend Frau Zittel, das ist zum Verrücktwerden zum Verrücktwerden ist das Frau Zittel ich werd noch verrückt davon verrückt davon.“ Und wenig später: „Ich kann doch die Wohnung nicht aufgeben nur weil du dieses Geschrei vom Heldenplatz hörst.“ Und noch ein wenig später: „Das hieße ja, dass mich dieser Hitler zum zweitenmal aus meiner Wohnung verjagt.“ In diesem Moment verklangen plötzlich die Freude, das Jauchzen und Jubilieren im erschrockenen Schweigen der Massen, denen soeben erneut die Erlösung vorenthalten worden war. Der Himmel blieb dunkel. Es folgten die nächsten dark ages. Und sie dauern noch an. Keiner weiß davon zu berichten. |
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Februar 2021
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