Entwurf einer Novelle, der im Oktober 2015 entstanden ist und mich beim Wiederlesen vor wenigen Tagen fasziniert und zur Weiterarbeit inspiriert hat:
Ein föhniger Südost trug sie nordwärts. Vorbei an aufgereihten Kürbissen, abgeernteten Maispflanzen und bereits wieder umgeackerten Zuckerrübenfeldern eilte der Zug zur tschechischen Grenze. Hie und da blitze in der aufgeräumten Landschaft der eine oder andere Weinberg, teils schon rotbelaubt aber doch noch voller praller Trauben. Knapp vor dem Landeswechsel verließen sie die Bahn, um am Parkplatz schon von Hilla erwartet zu werden. Mit einem alten 70er-Jahr-Käfer in rostumrandetem Hellblau ging’s noch eine knappe Viertelstunde weiter, draußen nichts Neues. Oder doch: Denn die Sicht auf die großteils flache, nur manchmal sanfthügelige Umgebung wurde ihnen von aneinandergereihten Straßendörfern verwehrt, in denen ein ebenerdiges Haus ans andere anschloss. So sehr sie einander im Baustil glichen, so sehr unterschieden sie sich in der Farbe ihrer Fassaden, die von mausgrau bis knalllila reichte. Was sich dahinter außer dem vom Vierkanter umschlossenen Innenhof verbarg mochte man nicht einmal ahnen. Greta und Marc waren auf der Flucht. Und sie suchten die Ruhe vor dem in der Großstadt tobenden Sturm gerade in diesem Landstrich, der dem Wein und damit der Wahrheit zugetan war. Kurze Zeit später standen sie vor dem prächtigen Gutshof der Weinbauerndynastie Maier, deren Weine den Weltruhm erlangten, den Hilla mit den von ihr gefertigten Skulpturen noch ersehnte, den ihr Gunter so lange schon wünschte und der dennoch mit keiner Million des höchst erfolgreichen Weinbaus zu erkaufen war. In der Mitte des mächtigen Vierkanters, der mit einem Stockwerk im der Straße zugewandten Teil protze, lag ein lichtdurchfluteter Glaspalast, Hillas Atelier. Im Wirrwarr der von weißem Marmor abgeschlagenen Teile stand ein männlicher Torso, vom Hals abwärts bis zu den Hüften bereits behauen, der Rest noch unkenntlich. Greta entfuhr noch vor dem Betreten der Werkstatt ein erregtes “Wow”, das sogleich durch eine abfällige Handbwegung Hillas relativiert wurde. Marc schaute und konnte dem Ausruf seiner Geliebten nicht folgen. Ihn nervte das Idealtypische des Torsos, der mit den üblichen Attributen des männlichen Oberkörpers ausgestattet war. Wo blieb die Kunst, fragte er sich, da doch nichts über die Wirklichkeit hinauswies. Wenn er allerdings an sein Spiegelbild dachte, überragte Hillas Werk jedenfalls seine Realität. Gespannt blickte er auf das, was hüftabwärts noch unbearbeitet dastand. Als er aus seiner Gedankenversunkenheit wieder aufblickte begegnete er Hillas kühlblauem Blick. Sie starrte ihn an, während er unversehens zu Boden schaute und Gretas Hand nahm. Sie betraten das Haus und landeten in einer großartigen Wohnküche, die so unbenützt aussah wie am ersten Tag. “Gunters Eltern haben sich immer Enkelkinder gewünscht, aber da bin ich absolut die falsche”, gestand Hilla um die beiden an den langgestreckten Esstisch einzuladen. “Weiß oder Rot?”, fragte sie lachend, und dann abgeklärter: “Oder doch lieber ein Gläschen Frizzante?”. Dabei funkelten ihre Augen als spräche sie vom Elixier ihres Lebens. Greta sah Marc an, der zuckte die Achseln, worauf Hilla lauthals den Schaumwein entkorkte und sie auf einen großen Jahrgang anstoßen mussten. “Gunter ist sonst ein ganzes Jahr nicht zu gebrauchen, wenn es kein großer ist heuer!” unterstrich sie ihren knapp zuvor vorgebrachten Toast. “Ihr müsst verzeihen, aber mein Göttergatte ist derzeit kaum im Haus, momentan schläft er sogar im Keller ... Er kann einfach nicht loslassen bis der letzte Tropfen abgefüllt ist.” Ein seltsam gurgelndes Lachen entsprang ihrer Kehle, das sie sogleich mit einem kräftigen Schluck Perlwein erstickte. Marc blickte auf ihren auf und ab hüpfenden Kehlkopf, der zu sehen war, weil sie beim Trinken den Kopf in den Nacken geworfen hatte. Die Hand, die das Glas hielt war fest und dennoch irgendwie zart, jedenfalls nicht so, als würde sie Hammer oder Meisel halten können, um damit Stein zu behauen. “So”, rief Hilla nachdem sie das leere Glas auf die Kücheninsel gestellt hatte, “und jetzt gehen wir was essen!”. Dann nahm sie Grete an der Hand und zog sie mit sich zur Tür. Marc folgte den beiden ein wenig später, folgte mit den Blicken Greta, folgte Hilla, die Jeans und Bluse trug und ein buntes Seidentuch über die Schulter geworfen hatte. An der Tür schlüpfte sie barfuß in blassrote Pumps, nahm mit einer lässigen Handbewegung, die sie sicher schon tausende Male gemacht hatte, noch den Schlüssel vom Bord und ging in den Innenhof. Grete blieb kurz stehen, sah sich um, bestaunte die bunte Blumenpracht, die dem Herbst etwas von der Sommerfrische gab, die man als Städter schon längst verloren glaubte. “Alles Schimäre”, rief Hilla und drehte sich um die eigene Achse, “aber mich unterhält’s!” Marc musste unwillkürlich lächeln, aber seine Augen machten es zu einem dieser traurigen Lächeln, die auf eine unerfüllte Sehnsucht deuteten oder einen verlorengegangenen Traum. Als das Hoftor ins Schloss fiel und die Stimmen der Frauen leiser und leiser wurden, entschied Marc seinen Blick noch einmal zum Atelier zu richten. Der Wind hatte gerade Wolken vor die Sonne geschoben, in diesem plötzlichen Dämmerlicht strahlte der weiße Torso eine die Zeit überdauernde Eleganz der ewigen Schönheit aus. Also möglicherweise doch Kunst, dachte Marc ehe er von der zurückkehrenden Greta mit einem “Wo bleibst du denn, komm doch endlich!” in die Gegenwart zurück katapultiert wurde. Nach einem üppigen Essen im “Winzerhof”, während sie schon beim Kaffee saßen, läutete Marcs Mobiltelefon. Ein Blick aufs Display genügte um sein Herz in Aufruhr zu bringen. Herzabwärts begann es zu rumoren und eine große Übelkeit befiel ihn. Sein Atem wurde schneller und an seiner Stirn bildeten sich Schweißperlen. “Probleme?”, fragte Hilla und da Marc nicht antwortete, assistierte ihm Greta: “Ach das übliche, zerbrochene Liebe, rachsüchtige Ex!” Hilla lachte laut auf: “Achso das!” um gleich danach noch einen Vogelbeer zu bestellen. Das Klingeln verstummte. Marcs Panik blieb ihm ins Gesicht geschrieben. Sie prostete den beiden mit einem “Vorbei ist bekanntlich vorbei! Also: Ex!” zu. “Wobei”, so ergänzte sie kurze Zeit später ihren Toast, “nicht immer kapieren das alle Beteiligten.” Dann begann sie davon zu erzählen, wie sie Gunter kennen gelernt hatte. Sie war auf der Suche nach einer Scheune für ihr Atelier mit ihrem VW in einem der Nachbardörfer angelangt und da sie den Weg verloren hatte, ging sie ins Wirtshaus am Hauptplatz. Dort stand gerade eine gröhlende Männerrunde an der Theke um weiß Gott was zu feiern. Jedenfalls seien, so Hilla, plötzlich alle verstummt als sie die Gaststube betrat. Und Gunter wäre der erste gewesen, der wieder den Mund aufgebracht hatte. Schönste, hätte er gesagt, nehmen Sie erst einmal einen kräftigen Schluck mit uns, der Rest wird sich finden. Nach mehreren kräftigen Schlucken hätte er sich angeboten, sie zum Objekt ihres Begehrens zu begleiten. Die Scheune lag wenige Minuten vom Ortskern entfernt am Fuß eines Weinberges. Sie sah schon ziemlich mitgenommen aus, im Inneren barg sie zwei leere Weinbergdraht-Rollen, einen Haufen vermorschter Spalierpfähle und achtlos in eine Ecke geworfene Scheren und Zangen sowie einen weiteren Haufen Drahtspanner. Es war düster und auch als sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, wusste sie, dass dieser Ort sich nicht als ihr Atelier eignete. Als sie sich zum Gehen umdrehte, stand Gunter vor ihr, legte seine kräftigen Hände an ihre Oberarme und schob sie an die Schuppenwand. Was dann geschah, könne sich ja wohl jeder denken. Ein zweiter Vogelbeer musste her, diesmal mussten auch Marc und Greta mittrinken. “Ex!” rief Hilla und Marc fragte, was sie denn nach dem geschilderten Akt des Kennenlernens veranlasst hatte, Gunters Frau zu werden. Das Piepen aus Marcs Hosentasche deutete auf eine neue Nachricht hin. Er zog das Handy heraus und schaute gebannt auf das Display. Eine neue Sprachnachricht von 270 Sekunden wurde ihm da angekündigt. Schnell ließ er es wieder in der Tasche verschwinden und bestellte eine Runde Vogelbeer. Der besorgten Greta entgegnete er: “Lass uns das Leben feiern, dazu sind wir schließlich hier!” Nach einer weiteren Runde zahlte er schließlich für alle, man musste sich ja für Hillas Gastfreundlichkeit erkenntlich zeigen. Auf dem Rückweg zum Winzerhof überkamen ihn die Gedanken, die er versucht hatte mit dem Schnaps zu betäuben. Sie waren heftiger als befürchtet und nahmen ihm für kurze Zeit den Atem. Gut, dass die beiden Frauen schon einige Schritte voraus waren, er wollte keineswegs in dem für ihn erbärmlichen Zustand gesehen werden. Er dachte an die Abmachung, die Bea und er getroffen hatten. Er dachte daran, dass sie möglicherweise bei seinen Sachen etwas gefunden haben könnte, das auf Greta hinwies. Er dachte daran, was sie ihm da wohl auf die Sprachbox gequatscht hatte und spürte, dass ein Verhängnis seinen Lauf zu nehmen begann, dass er um alles in der Welt lieber vermieden hätte. Dennoch hatte er nicht den Mut, die Nachricht abzuhören. Er nahm einen tiefen Atemzug der föhnigen Herbstluft, der ihn aber kaum erfrischte, und machte sich auf den Weg den beiden nach.
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Februar 2021
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