für Irmi, zu einem besonderen Geburtstag Die Katze im Nachmittagssonnenschein. Stoisch. Die Augen zu engen Schlitzen geformt. Viel Weiß. Ein wenig Schwarz von den Wangen aufwärts bis zu den Ohren. Ein kleiner rot-brauner Fleck an der linken Schulter. Die Vorderpfoten ruhen im Habt-Acht auf bereits mattem Terrazzo. Sprengsel von grau, rot-braun und weiß, auch ein wenig schwarz. Nach dem Mahl ist vor dem Mahl. Die Ruhe vor dem nächsten Sprung. Eine Ruhe die das Herz berührt, das sogleich gelassener schlägt. Lassen. Einlassen auf das Jetzt. Lassen und tun, Nur tun, was nicht gelassen werden will. Abbild eines nie endenden Augenblicks.
Miri dreht das Foto, stellt es auf den Kopf, entdeckt das Gelb im Hintergrund, verschwommen. Die Frucht eines Zitronenbäumchens auf jener Terrasse wird selbst zur Sonne, von der sie ihre Farbe bekommen hat. Dieser Ausschnitt wird zu einem neuen Bild, das von der Kraft des Lebens erzählt. Eine Drehung um 45 Grad verstärkt dessen Ausdruck. Malerisch. Aufgetragen auf eine Leinwand, 40 mal 60, nein, besser im Quadrat 50 mal 50. Die Augen ruhen nie. Ein Eindruck jagt den nächsten, jeder verlangt nach Ausdruck. Der Hafen. Ein Mosaik bunter Teilchen. Rechts der schwarz-rote Trawler. Darüber wolkenloser Himmel in Azur, darunter kaum bewegtes Meer in Grau-Blau. Im Hintergrund die Häuser der Hafenstadt, die tief hinein in die sanften Hügel reichen und den Horizont berühren. Ausgestreckt über allem die Krakenarme der Ladekräne. Sie ragen ins Leer und fassen nichts. Kein Mensch zu sehen, doch alles voll Leben. Lässt du dich darauf ein, wirst du Teil des Geschehens, bist beteiligt, Aktionär dieses Daseins, das dein Dasein werden will. Oft schon bist du zwischen diesen Häusern geschlendert, hügelauf- und hügelabwärts. Viele Male schon haben deine Schritte den grauen Asphalt des Kais berührt, manchmal aufgeregt laufend, manchmal nachdenklich schreitend, meist deiner unbewusst. Einige Male waren deine Schritte nicht allein, wurden von anderen Schritten begleitet, von Zeit zu Zeit sogar im Gleichklang. Nur wer ganz genau schaut, findet all das und noch mehr in diesem Bild jenes Hafens. Auch deine Sehnsucht liegt im Blau, die Sehnsucht beim Blick von dort auf’s offene Meer hinaus. Das Leben muss dort sein, obwohl es doch hier ist. Welches Leben? Wessen Leben? Führen und Führen-Lassen. Welches und wessen ist es, das du führst? Draußen ist Freiheit, dort wo der Horizont beginnt. Kannst du den jemals erreichen? Willst du ihn jemals erreichen? Macht dich nicht genau dieses Sehnen lebendig und stürbest du nicht deiner Täuschung, wenn du jemals an diese Linie kämst? Deadline ... Miri’s Blick verliert sich da und dort und dort und da, doch verliert sie sich nie. Selten. Der Augenblick ist ihr Metier. Sie hält ihn fest. Nicht das Davor und Danach. Und doch erzählt sie mehr noch genau davon. Sie weiß nichts, doch ahnt sie. Das ist die Kraft ihrer Bilder. Aussagekraft. Mit Leichtigkeit wählt sie den Ausschnitt. Einschnitt ins Leben. Zuschnitt. Goldener Schnitt eines Momentums, dem sie mit einem Klick seine Eindeutigkeit und die vielen Bedeutungen schenkt. Wäre er nicht vor ihre Kamera gelaufen, dieses Porträt hätte niemals das Licht der Welt erblickt. Die rote Blüte des Klatschmohns, getragen von einem mehrmals verschlungenen zierlichen Stängel, verwurzelt in der Mauerritze des Steinhauses am Ende der Gasse. Ein zarter Sonnenstrahl, die perfekte Sekunde. Plötzlich Schatten. Sein Schatten und sein “Scusi, Signorina!”, die beschwichtigenden Handbewegungen und ihr ärgerlicher Blick aus der Hocke hoch zu ihm, in seine blitzblauen Augen. “Wie kann ich das wieder gut machen?” “Gar nicht. Ein Augenblick ist ein Augenblick. Ist er vorbei, ist er vorbei!” Und doch wurde jenes Porträt geboren. Eine Stunde im Cafe auf der Piazza komprimiert auf diesen einen Moment. Davor: seine wortreichen Entschuldigungen und die oft wiederholten Einladungen, bis sie schließlich annahm; ihre Körper warfen lange Schatten auf die nachmittagssonnendurchflutete steingepflasterte Gasse vor ihnen; ihre Schritte hetzten den Schatten nach ohne jede Chance, diese jemals einholen zu können; die ihren eilten voraus als wollten sie fliehen, seine hinterher als liefe er um sein Leben; der Platz nahe am Sonnenuntergang; zwei weiße Stühle, ein weißer Tisch, ein kleines weißes Schildchen auf weißlackiertem hölzernen Fuß, eine knallrote Neun; sein Ristretto, ihr Macchiato; viele Worte, wenig Aussage; doch ihre Leidenschaft siegte und versuchte ihn festzuhalten; zufrieden war sie erst beim siebenten Anlauf. Andrea und Miri. Er lächelt. Sie lächelt. Sie lächeln. Er: Kurzes, schwarzes, nach hinten gegeltes Haar, diese hellblauen Augen, gebräunter Teint, hinter den vollen Lippen blitzen weiße Zähne hervor. Sie: Rotbraune Locken, wild und ungekämmt, die dunklen Augen direkt ins Objektiv gerichtet, blasse Wangen und tiefrote Lippen, die schmunzeln. Der Kragen seines weit aufgeknöpften weißen Hemdes, ihre Korallenkette und die Träger des rostroten Sommerkleides auf den hellen, schmalen Schultern. Die beiden: ganz nahe, fast cheek-to-cheek, weil alles am Selfie Platz haben soll; über ihnen die Reste des Tages im bereits dämmrigen Blau. Danach: ihr Abschiedskuss auf seine Lippen gehaucht; seine Hand, die ihre nicht lassen will; ihr Entwinden; ein letzter Blick aus der schnell entstandenen Fremde; seine Kusshand aus der Ferne des hinter ihm untergehenden Tages; die Stille und kein Zufall. Was bleibt, stiften die Liebenden. Das gerahmte Porträt auf Leinwand, 60 mal 40, als einer von vielen Augenblicken, die ihre ewige Gegenwart fristen an jener fotobedeckten, malerischen, kaum noch sichtbaren Wand im Wohnzimmer von Miris Häuschen am Rande der Stadt, nächst des Ufers der nördlichen Adria. Doch: Der nächste Moment wartet schon Ewigkeiten, um von Miri für immer auf ein weiteres ihrer Fotos gemalt zu werden.
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Februar 2021
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