Dieser Tag hatte es wieder in sich gehabt. Donner entspannte sich gerade mit einem Glas burgenländischen Rotweins, den ihm ein ehemaliger Klient, ein Weinbauer, der ihn vor Jahren wegen seiner Eheprobleme aufgesucht hatte, zum vergangenen Weihnachtsfest per Post geschenkt hatte. Auf der beigelegten Grußkarte konnte man immer noch seine große Dankbarkeit ablesen und auch seine Bewunderung dafür, dass es durch Donners Begleitung gelungen war, einer am Ende befindlichen Beziehung zu einem neuen Frühling zu verhelfen, der immer noch andauerte.
Was Peter bei anderen gelang, misslang ihm regelmäßig im eigenen Leben. Seine Partnerschaften, wenn man sie überhaupt so nennen konnte, dauerten meist bloß einige Monate, von Frühling war nur in den ersten Wochen die Rede, diesen folgte meist unmittelbar ein stürmischer Herbst, ehe die ewige Eiszeit ausbrach. Von Zeit zu Zeit erreichte ihn von dort noch der eine oder andere Giftpfeil, meist in Form einer SMS oder einer E-Mail. In diesen Momenten brach in ihm ansatzlos die Gluthitze eines Sommers am Äquator aus und er missachtete alle Regeln der Konfliktbearbeitung, die er seinen Klienten regelmäßig wärmstens ans Herz legte. Das Mobiltelefon läutete, am Klingelton konnte Donner erkennen, dass seine Mutter ihn anfunkte. Das ließ ihn einen Moment zögern und erst nach dem fünften Läuten drückte er die grüne Taste am Display – nicht ohne zu hoffen, dass dieser Knopfdruck um das Bisschen zu spät erfolgte, um eine erfolgreiche Verbindung herzustellen. Erfolgreiche Verbindung waren nicht gerade die Worte, die einem einfielen, wenn man die Beziehung Peters zu seiner Mutter kannte. „Donner“ meldete er sich und musste sogleich zur Kenntnis nehmen, dass seine Gebärerin schlechte Laune hatte. „Was ist denn mit dir los?“, startete diese das Gespräch. „Wie kommst du auf diese Frage, Mutter?“, entgegnete Peter. „Was – wie jetzt – ist das eine deiner perfiden Techniken, um deine Gesprächspartner abzuwimmeln. Das zieht bei mir nicht.“ Und nach einem langen Schweigen setzte sie fort: „Du weißt, dass das mit den Gegenfragen bei mir nicht zieht. Ich will jetzt sofort eine Antwort!“ Donner überlegte, ob und wenn ja, was wirklich mit ihm los sei, und noch ehe er zu Ende denken konnte, begann seine Mutter von ihren Problemen mit seinem Vater zu quatschen und es begann eine der üblichen, kostenlosen telefonischen Eheberatungsstunden für die einzige Frau in seinem Leben, die dauerhaft an seiner Seite verweilte. Während sie also das Übliche von sich gab, hing Peter noch seinen Gedanken über die Frage seiner Mutter nach. Auf ihre regelmäßige Rückfrage „Peter, hörst du mir überhaupt zu?“, antwortete er automatisch mit „Was denkst denn du, Mutter?“ Das hatte sich in ihren Telefongesprächen schon seit Ewigkeiten so eingespielt, er wusste auch, an welcher Stelle er was zu sagen hatte und in der Regel endeten diese Telefonate mit Peters Tipp, es doch mal damit zu versuchen, ihrem Ehemann diese Dinge direkt zu sagen. Peters Mutter redete also und er selbst dachte weiter. Nachdem Susi an diesem Tag gegangen war, hatte er das übliche schale Seelengefühl, das andere schlechtes Gewissen nannten. Es war ihm rätselhaft, warum das immer so war. Er kannte das sonst nur von den vielen Telefongesprächen mit seiner Mutter, nach dessen Ende sich regelmäßig eine ähnliche, wenn nicht sogar die gleiche Stimmung einstellte. Der Klient danach, den Susi beinahe umgerannt hatte, war weiterhin in seiner Sackgasse geblieben und nicht bereit gewesen, mal zurückzuschieben und eine der vielen anderen Straßen zu nehmen, die vor ihm lagen. Für Peter waren diese Kunden anstrengend, weil sich so gar nichts bewegte, andererseits waren sie als Dauerbrenner die, die ihm sein Einkommen bescherten. Von diesem konnte er ausgesprochen gut leben, er hatte vor knapp drei Jahren diese Dachgeschosswohnung am Stadtrand gekauft, direkt gegenüber eines großen Tierparks, in dem die großstädtischen Waidmänner regelmäßig erfolgreich ihr Jagdglück versuchten und für ein paar tausend Euro pro Abschuss dank der den Park umgebenden Mauer ein Wildschwein ums andere erlegten. Hier saß er nun auf seinem Sofa, hörte seine Mutter reden und hing den Erinnerungen an den Tag nach. Die Intuition für Gessler hatte er nicht mehr an den Mann bringen können, da dieser knapp vor seiner Stunde abgesagt hatte. Gegen Bezahlung versteht sich. Bei ihm hatte Peter keine Skrupel und er knöpfte ihm das Doppelte seines üblichen Honorars ab. „Was nichts kostet, ist nichts wert“, erinnerte er sich in diesem Fall an eine der Weisheiten seiner Oma, um nur ja nicht auch in diesem Fall jenem schalen Gefühl zu verfallen, das er um alles in der Welt nicht schlechtes Gewissen nennen wollte. Woher er diese Aversion gegen das Gewissen hatte, war dem Donner immer unklar geblieben. Seine diesbezüglichen autodidaktischen Reflexionen hatten ihn zwar jedes Mal in seine Kindheit zurückgeführt; da vor allem zu seinem Vater, der seiner Mutter nach das ganze Unheil ihres und damit auch seines Lebens war. Aber kaum stand er dann in Gedanken vor ihm, stand er schon so was von an. „... hat er gesagt, dass er mich verlässt ...“ Peter wurde durch diese Worte seiner Mutter flugs aus seinen Gedanken gerissen und traute seinen Ohren nicht. Was er als nächste hörte war: „... das kann er mir doch nach all den Jahren nicht antun. Und du bist mit Schuld, hast du mir doch dazu geraten, die Dinge offen mit ihm zu besprechen.“ Schweigen, dann Schluchzen, dann wieder Schweigen an beiden Mobiltelefonen. Was hatte seine Mutter da gerade gesagt. Er rang mit sich und den Worten, die er nicht und nicht finden konnte. Als er sich gefasst hatte, trat er dem Schluchzen seiner Mutter entgegen. „Du wirst schon sehen, wenn er sich erstmal beruhigt hat, dann werdet ihr eine neue Gesprächsbasis finden. Es ist in der Regel so, dass ein Mensch, der nach so vielen Jahren erstmals mit den Wahrnehmungen seines Gegenübers konfrontiert wird, die so eklatant von seinen eigenen abweichen, einmal den Rollladen runterlässt. Kein Grund zur Sorge, Mutter. Du wirst sehen, jetzt geht’s aufwärts.“ Am anderen Ende der Leitung war das Schluchzen mit einem Mal verstummt. Peter klopfte sich bereits selbst anerkennend auf die Schulter, als das mütterliche Donnerwetter erst richtig losbrach. An dessen Ende hörte er den Satz: “Er hat bereits die Koffer gepackt und ist aus dem Haus gegangen.” Dann wieder Schluchzen. Peter räusperte sich und meinte: “Das ist ein gutes Zeichen, dass die Koffer noch da sind. Da kommt er noch einmal zurück und dann kannst du ihn dann wieder drauf ansprechen ...” “Du bist und bleibst ein Idiot”, replizierte Frau Donner grollend um gleich darauf wieder in herzzerreißende Tränen auszubrechen. Donner wusste nicht wie er sich der mütterlichen Umklammerung entziehen könnte und machte den Vorschlag, dass er mit Vater reden würde. Kurze Zeit später war dieses Telefonat beendet und er tippte die Nummer seines Vaters ins Handy. Es war kein Freizeichen zu hören sondern gleich das Tonband der Mailbox: “Donner hier, wenn du nicht Grete oder Peter bist, dann hinterlass eine Nachricht, ich melde mich wenn ich Lust habe.” „Wow“, dachte Donner, „das war eine klare Ansage!“ Da konnte er noch eine Menge lernen von seinem Vater. Er befolgte wie üblich die väterliche Anweisung, hinterließ also keine Nachricht und goss sich noch ein Glas des wirklich süffigen Rotweins ein. Von einer plötzlichen Melancholie befallen, holte er eines der Fotoalben seiner Kindheit aus dem Bücherregal. Am Buchrücken prangten in goldenen Lettern die Jahreszahlen 1972-1974. Gleich begann er gedankenverloren darin zu blättern. Das waren tatsächlich die goldenen ersten Jahre seines Daseins auf diesem verrückten Planeten, den zu retten er sich schon bald danach verschrieben hatte. Zuerst als umweltbewegter Aubesetzer, der seinen Großvater mit knapp 12 Jahren erfolgreich nach Hainburg begleitet hatte, in seinen langen Lehramts-Studienjahren an der Uni als Mitkämpfer der grünen Studierenden und schließlich- nach mehreren recht zähen Jahren als Deutsch- und Geschichte-Lehrer an einem Gymnasium der Hauptstadt - als diplomierter Sozial- und Lebensberater. Seine Ideale waren vom Großen zum Kleinen geschrumpft und er hoffte, durch die Rettung des Einzelnen die Welt verändern zu können. Nun stand in wenigen Tagen sein Vierziger bevor und irgendwie hatte er das Gefühl, das Leben liefe ihm immer schneller zwischen den Fingern durch. Er stellte das Album zurück ins Regal und rief nochmals seinen Vater an. Wieder das Tonband mit der Stimme seines Vaters. Doch diesmal ignorierte er dessen Aufforderung und las seinem Vater alkoholermutigt und daher ungeniert die Leviten.
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Februar 2021
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