Tim nervt. Vielleicht, weil er ohne Struppi unterwegs ist. Vielleicht auch, weil er ständig „sozusagen“ sagt. Irgendetwas stimmt nicht mit ihm.
Der blonde Haarschopf, okay. Aber dann: Nerd-Brille, schwarzes Hemd, schwarze Hose, schwarze Schnürschuhe und kanariengelbe Socken. Und ein weißes Smartphone, das er in der linken Hand hält und auf dem er, auch während er redet, ständig mit dem rechten Zeigefinder tippt und mit dem linken Daumen wischt. Es stimmt mit ihm ne ganze Menge nicht. Und er heißt Niki. Die Sitzung zieht sich schon viel zu lange hin, ich denke an den bevorstehenden Saunaabend mit meiner Männerrunde. Niki ist kein Teil davon. Und das ist gut so. Grade eben hat er wieder „sozusagen“ gesagt. Ich find ihn sozusagen Scheiße. Irgendwie schleimt er. Aber wen will er damit beeindrucken? Die Hagere, deren linker Mundwinkel sich seit unserer letzten Begegnung vor einigen Woche noch tiefer nach unten gezogen hat - Richtung Schlaganfall sozusagen – und die grade irgendetwas von Bewerbungsfotos im Bikini faselt, mit denen sie überhaupt nicht einverstanden wäre. Ihr diesbezügliches Foto wäre jedenfalls nicht beeindruckend genug, denke ich. Ach, Katrin! Oder den Vertreter der Geschäftsleitung, Jean, Sakko, gestreiftes Hemd, einen dicken goldenen Ehering, ein großes schwarzes Smartphone, mit dem Nikis nicht mithalten kann, auf das er von Zeit zu Zeit dezent blickt und hie und da noch dezenter tippt. Auch sein Wischen ist nur ein ganz klein wenig in die eine oder andere Richtung verlängertes Tippen. Joe - wie er sich nennen lässt – hat kurze an den Spitzen schon ergraute Haare, die er Mitte rechts gescheitelt hat. Das erzeugt eine lustige Welle in seiner Frisur, da die Haare zuerst noch gegen den Scheitel wachsen und sich dann erst in einem hohen Bogen dem Diktat ihres Besitzers beugen. Tränensäcke unter seinen Augen komplettieren das Bild eines verbrauchten Mittvierzigers, der sich Hoffnung auf mehr macht – und das wahrscheinlich schon zu lange. Auch er kein Typ für meine Männerrunde. Niki, Katrin und Joe sowie eine Gruppe von grauen, namenlosen Frauen und ich. Eine bunte Truppe von Söldnern im Dienste der Unternehmung Mensch. So lautet einer der Slogans der Werbeschiene dieser Firma, die sich um die Weiterbildung von Menschen kümmert und dabei ihre Mitarbeiter nicht vergisst. Zumindest fast nicht. Und die öffentliche Hand zeigt sich sehr dankbar, offen und spendabel. Wir müssen darauf achten, dass alles korrekt abgerechnet wird und in die richtigen Kanäle fließt, sagt Joe. Wie recht er hat. Die Kanäle in der obersten Etage sind sozusagen etwas breiter als jene, in denen wir schwimmen dürfen. Aber man muss doch auch auf die Bedürfnisse der Zielgruppe Rücksicht nehmen, meint Tim, äh Niki und das diesmal ganz ohne „sozusagen“. Meint er das jetzt ernster als seine anderen Sprüche? Sympathischer macht es ihn mir nicht. Die Diskussion, die nun entsteht, beehre ich mit der Bemerkung, dass ich glaube, dass wir ohnehin an den Bedürfnissen der Zielgruppe vorbeiproduzieren, weil „die brauchen ganz was anderes“. Kurzes Schweigen. Ich bin erschrocken, weil ich hoffte, dass dieser Einwurf ohnehin nicht wahrgenommen würde. Die Pause im Gequassel dauert nur kurz, Joe schickt noch einen ernsten Blick in meine Richtung, Niki nickt. Wie hab ich das verdient? Er greift das Argument sogar auf und startet eine Grundsatzdiskussion, in der sich vor allem die Hagere als Rächerin der Enterbten entpuppt. Und als eine der Frauen, die bei den derzeit entwickelten Konzepten überhaupt zu wenig berücksichtigt würden. Ich freue mich, dass ich Niki ins Rennen für die gute Sache geschickt habe und denke an den Saunaabend. Da wird die gute Laune fließen wie Schweiß und Bier. Da wird das Leben gefeiert als gäbe es kein Morgen. Da werden Geschichten erzählt wie sie das Leben niemals schrieb. Da wird die Männerfreundschaft zelebriert als wären wir das wirklich starke Geschlecht, gegen das keiner ankommen kann. Da werden Siege vorgeführt, die niemand außer dem Erzähler mitgekriegt hat. Oh gute, starke Männerwelt. Was wäre Mutter Erde ohne dich? „…sind auch nicht ganz ohne!“ „Bikini?“, frage ich mich. Erst dann kriege ich mit, dass die Aufmerksamkeit der ganzen Truppe auf mich gerichtet ist. Ich bewege den Kopf langsam auf und ab, als wollte ich nicken, bin mir aber nicht ganz sicher, was man jetzt von mir erwartet. Da hilft nur ein Gegenangriff: „Und wie siehst du das, Tim … äh, Niki?“ Überraschung in der Runde. Niki rudert mit den Armen, rutscht unruhig am Sessel hin und her und pariert meinen Angriff mit den Worten: „Was konkret meinst du damit?“. Ich gebe mich noch nicht geschlagen und fordere ihn nach einer kurzen Pause mit den Worten „Na ja, das soeben Gesagte oder etwa nicht?“ heraus. Wie lange wollen wir jetzt noch Ping-Pong der Worte spielen, denke ich. Niki hat keinen Spaß mehr daran und zieht sich beleidigt in sein Schmollwinkerl zurück. „Ach, was weiß ich, sollen die anderen was sagen!“ Touché! Ich nippe an meinem Glas mit Juice und lehne mich mal entspannt zurück. In meinem Mund verwandelt sich die Flüssigkeit in herrlich kühles Bier und um mich herum mutieren die grauen Mäuschen zu einer illustren Damenschar im Saunabuffet. Ich bin verblüfft, da ich doch den Anspruch habe, ernsthafte Gedanken zu wälzen und mich nicht vom Treiben der Welt verführen zu lassen. Also konzentriere ich mich nochmals auf Niki, der jetzt sehr verkrampft und mit verschränkten Fingern in seinem Sessel lehnt. Woran er wohl gerade denkt? Wäre er tatsächlich Tim hätte er sicher eine andere Lösung für seine Situation. Er würde auf den Tisch hüpfen und den Überraschungseffekt zu einer spektakulären Flucht durch das Fenster und über die Fassade nützen. Unten würde schon Struppi auf ihn warten, um eventuelle Verfolger zu verbellen. Aber so bleibt er einfach sitzen und lässt sich das alles gefallen, der Niki. Niki ist eben doch nicht Tim.
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Mein Beitrag zum FM-Wortlaut 2015 die nacht. der schuss. das schreien. erst seins. dann ihrs. wild er. erschrocken sie. er fällt, bleibt liegen. sie rennt, fällt und rennt wieder. wund er. verwundert sie. sein atem schwer, der ihre schnell, begegnen sie einander, in ihren wäldern, wieder - nach drei tagen langer zeit.
warst wirklich du das nachts da draußen? du und nicht sie, die vorzugeben du mir schienst? Warst wirklich du des nachts da draußen in den wäldern hinter unserer hütte, in der wir uns zum ersten mal geliebt? konntest du mich tatsächlich so hinters licht führen wie damals auf die lichtung, auf der wir uns zum letzten mal geliebt? würdest du es wirklich wagen, das was uns einmal heilig war, auf diese weise zu entehren? wärst du jetzt noch an meiner seite und nicht dagegen, wenn wir drei tage vorher die auseinandersetzung nicht gehabt. nur wegen ihr, die vorzugeben grade eben die wälder du durchschlichen hast um mich endgültig zu beschämen? sein blick – die vielen fragen. und dann ihr blick - ein einzig fragen. und ihr entsetzen, welchen bock sie da erlegt. wie konntest du nur diese frage stellen, die eine, die nie zu stellen wir versprochen? wie nur, aus welcher kraft hast du dies „sie oder ich“ der dunklen lichtung mitten in das antlitz spucken können? in deins, in meins. wolltest du mit füßen treten, was uns verbunden hat, wolltest du bloß zerstören, auch mich, auch dich, uns - sie? wußtest du nicht, dass auch vergangenes niemals durch gegenwart vergeht? auch wenn sich seine lippen nur schwach bewegen lassen, bewegen sie ihr herz – und weh wird ihr um diese liebe, die sie mit einem schuss ins dunkelblaue für alle mal beendet hat. warst du bei dir in dieser nacht, ganz du, ganz selbst? scheinst du nur außer dir zu sein? wäre ich nicht hinters haus gelaufen, als ich die schritte hörte, ihre, deine, hättest du dann mut gehabt, mir drinnen zu begegnen im licht der kerzen, die ich für unser erstes treffen hier besorgt? besorgter ringt er um die worte, die gurgelnd nur aus seiner kehle flehen. sie legt den zeigefinger ihrer rechten auf seine lippen. und mit der linken streicht sie ihm durchs haar. wieso jagt eine da die andere, von der sie nichts zu fürchten hat? warum will mensch des andern wolf sein, was wolf dem wolf nie wagen würde? magst du da draußen im blute unseres lebens liegen, dicht neben ihr, nah neben mir? hast du den plan gehabt, mich zu bekriegen, in dem du mich auf diese weise kriegen wolltest, um auszuweiden bei lebend’gem leib mich, um ausbluten zu lassen mein herz, die leber unserer lieb’ zu rauben? wie konntest du gesetz und ordnung unserer verbindung so verletzen, die wir uns untertan gemacht auf dieser lichtung vor jahr und tag für immer? wolltest du fortan nur gesetzlos leben – den wäldern outlaw jane calamity? sein blick schweift ab. und Ihre hände nutzen den augenblick und fassen seine – mit einem ruck zerrt sie den überraschten die meter weiter bis zu einer kuhle, in der es sich beenden lässt. weidwund ist todgeweiht. erinnerst du nicht mehr die stunden, in denen blut floss, schnell, so schnell, dass dein, mein atem dem eines jagenden, gejagten tieres glich? denkst du nie mehr an die erschöpfung nachdem getan war, was getan sein musste, getan für mich, für dich, doch nicht vorbei? wagst du dich jemals noch an diese grenzen, die du mich überschreiten hast gelehrt, das eine um das andere mal, weit, tief ins unvertraute, unbekannte? kennst du den weg noch, den zurückzufinden wir nie und nimmer schaffen konnten trotz anderslautender versprechen? weißt du nicht mehr, als mein vertrauen brach zum ersten mal und ich mich des vertrauens nicht würdig fand obwohl du mein vertrauen hast missbraucht? bist du dir all der irrwege bewusst, die wir arterien gleich ins dickicht zogen? meinst du nicht auch, dass wir darin das herz verloren, du, ich, von nun an herzlos, blutleer, kalt und frierend bar jeder hoffnung auf unseren lebensstraßen zogen? Hattest du mein gefühl, dass wir der zukunft starben an dieser lichtung, so dunkel wie die nacht? er schließt die augen, erstmals seit jenem schmerz, der herzsüdwärts all seine glieder flammendrot durchzog. und sie bedeckt sehenden auges, so gut dies in der dunkelheit gelingt, den schmerz mit laub vom letzten herbst, der früher kam als ihre sommerlaune wollte. was willst du noch, bevor das auge bricht, mein dein? willst du es wissen, wieder, wieder, wieder? “ich oder sie”, “ich oder sie”, “ich oder sie”? wie oft noch? willst du die antwort auf die eine frage mir aus der kehle pressen, röchelnd in meinem letzten atemzug? weißt du, dass es auch dann niemals gewissheit geben wird, du dir nie mehr gewiss sein kannst? hast du nicht schon genug gelitten an ihr, mir und dir selbst? ist frieden möglich in diesem heißen krieg, ist es die ruhe nach dem sturm? kennst du die folgen von „ist blut in wallung“? folgt darauf nicht erst recht verfolgung? bist du dir deiner sache sicher, der sicherheit, der meinen und der deinen? kennst du das schicksal bergers noch, der heute noch mit leerem blick die welt bestaunt vom pflegeheim da oben, nachdem er alle mit sich sterben lassen wollte aus seines großen vaters büchse? willst du davor nicht meiner vielen fragen noch red’ und antwort stehen? er reißt die augen auf im stöhnen der sonne mondlicht glänzt in diesem blick, bevor er, es für alle mal erlischt. sie deckt die augen zu mit ihren händen und fragt sich wieder, wieder, wieder: „sie oder ich?“, „sie oder ich?“, „sie oder ich?“. und wenn schon sie mit ihm, die liebe ihres lebens, durch ihre hand in dieser dunkelheit verging, dann kann sie gleich ihr leben löschen und deren, die all das verdarb. die flinte ist noch heiß, zu schad’ fürs korn, die nacht noch jung, und einer wilderei kann eine andere folgen, weil sie sich letzlich durch sich selber sühnt. |
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Februar 2021
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