Das war einer jener Momente, vor denen man sich als Vater immer fürchtet. Für Pertti waren es zwei Situationen, die ihn dieses Fürchten lehrten: nämlich keine Antwort auf eine Frage seines Sohnes zu haben oder ihm eine schlechte, eine sehr schlechte Nachricht überbringen zu müssen.
Gestern abends noch hatten sie sehr ausgelassen den Jahreswechsel gefeiert, es war der erste Silvester gewesen, an dem Matti erst zur gleichen Zeit wie seine Eltern ins Bett gegangen war – und das war gegen zwei Uhr morgens gewesen. Mit dabei war auch Mattis Eisbär gewesen, ein Kuscheltier, das er einmal von der Nachbarin bekommen hatte, als Vorschuss sozusagen. Ja, er musste ihr versprechen, dass er nie wieder so laut toben würde, denn sonst würde der Eisbär wieder weglaufen. Pertti und seine Frau waren in diesem Moment derart perplex gewesen, dass sie kein anderes Wort außer “Danke” herausgebracht hatten, während Matti begeistert vom weißen weichen Fell des neuen Bettgenossen auch nur “Ja, klar” gesagt hatte. Damals war er 4 Jahre alt gewesen. Heute, fast 6 Jahre später, lebte dieser Eisbär immer noch. Die Nachbarin hatte noch viele Male an die Wände geklopft und auch zwei böse Briefe geschrieben, geschehen war aber nichts. Weder war der Eisbär davon gelaufen, noch wurde jemals die Polizei gerufen oder die Hausverwaltung eingeschaltet. Allerdings hatte es doch einige Zeit gedauert bis Mattis Eltern sich wieder entspannt hatten und von ihrem “Sei nicht so laut, sonst rennt der Eisbär weg” wieder losgekommen waren. Matti hatte dann immer seinen Eisbären ganz, ganz fest gehalten - und kein Mensch der Welt hätte ihm diesen in jenen Momenten wegnehmen können; geschweige denn hätte der Eisbär eine Chance zum Weglaufen gehabt. Heute, mehr als sechs Jahre später, war der Eisbär also immer noch Mattis Lieblings-Kuscheltier, obwohl er bereits starke Gebrauchsspuren aufwies und sein Fell schon grau und stumpf geworden war. Dieses Geschenk der alten Dame von nebenan hatte allerdings zur Folge gehabt, dass sich Matti für das Leben der Eisbären zu interessieren begonnen hatte. Mehrmals hatte Pertti mit ihm den Helsinkier Zoo besucht, es waren auch viele Bücher mit und über Eisbären angeschafft worden und es hatte seither keinen Film mit einem solchen Wesen gegeben, den der Junge nicht gesehen hatte. Knapp vor dem Ende jenes Jahres, in dem er den Eisbären unter Auflagen überreicht bekommen hatte, hatte es eine Weltklimakonferenz gegeben, in der sich alle Staaten der Welt nach jahrzehntelangem Ringen auf eine Reduktion der Erderwärmung auf ein für diese erträgliches und für die Lebewesen des Planeten hoffentlich auch überlebensförderndes Ausmaß einigen hatten können. Auf diese Weise hatte man gehofft, das Steuer nochmal herumreißen zu können und die Folgen des Klimawandels einzudämmen. Noch knapper vor diesem Jahresende war es auf dem Nordpol zum ersten Mal seit es Messungen gegeben hatte, um knapp 30 Grad wärmer gewesen als üblich. Die Temperaturen waren sogar im leichten Plusbereich gelegen. Die Bilder, die damals in den Abendnachrichten gesendet worden waren, waren beängstigend gewesen. Pertti dachte an das für ihn schmerzvolle Dahinschmelzen von Schneemännern in den Wärmephasen oder am Ende des Winters im Garten vor dem Landhaus seiner Großeltern draußen vor der Stadt, als er noch ein Kind gewesen war. In diesen vergangenen sechs Jahren allerdings war es zu einer dramatischen Erwärmung der Winter am Nordpol gekommen und das Polareis war extrem schnell geschmolzen. Plusgrade waren in dieser Region nun keine Seltenheit mehr. Umweltorganisationen und Tierschutzvereine hatten mit verschiedenen Aktionen versucht, das Überleben der Eisbären zu sichern. In den ersten beiden Jahren waren zwei Drittel der Population durch Ertrinken gestorben, da das Eis immer dünner und damit nicht mehr tragfähig genug geworden war. Eine der ersten Ideen der von den Regierungen der an die Polarregion angrenzenden Staaten gebildeten Eisbär-Rettungs-Kommission unter dem verblüffenden Namen “Ice-Breaker” war es gewesen, die Bären an den Südpol umzusiedeln. Bloß hatte das Wetter dort nicht mitgespielt, denn die Erwärmung des Nordens hatte keineswegs zu einer Erwärmung des Südens geführt und dieser war daher nicht wie erhofft bewohnbar geworden. In weiterer Folge hatte man begonnen, die noch lebenden Eisbären einzufangen und in Zoos sowie eigens dafür geschaffenen Eisbären-Stationen mit annähernd natürlichen Lebensbedingungen aufzubewahren - dies war auch von der Erwartung geprägt, dass das Klima nach einer kurzen Phase doch wieder in seinen Normalzustand zurückkehren würde. Die Zeit war vergangen, aber die Situation am Nordpol hatte sich zum Entsetzen aller auf diesem Niveau stabilisiert. Auch an Matti waren die Ereignisse dieser Jahre nicht spurlos vorbeigegangen, es hatte vor einigen Jahren einen richtigen Eisbären-Hype gegeben. Die Zeitungen sowie die Radio- und Fernsehnachrichten waren voll von Eisbären gewesen und hatten ausführlich über deren Situation und die geplanten Rettungsversuche berichtet. Nachdem der letzte Eisbär ins Eisbären-Center nach Spitzbergen überstellt worden war, verebbte die Berichterstattung. Was nur mehr eingefleischte Eisbären-Fans mitbekommen hatten - und Pertti zählte aufgrund seines Sohnes dazu - waren die vergeblichen Versuche, die Fortpflanzung der Eisbären in den eigens für sie gestalteten Indoor-Polarlandschaften der Eisbärenstationen in Schwung zu bekommen. “Diese Viecher wollen einfach nicht mehr ...” hatte es einmal ein bekannter Forscher kurz und emotional zusammengefasst. Die Erde hatte schon viele andere Tierarten verloren, daher gewöhnte man sich an die Situation und an eine Welt ohne die Polarbären. Immerhin gab es ja genug Filmmaterial und diesmal musste man sich nicht mit bloßen Spekulationen zufrieden geben wie bei den von allen Kindern weiterhin geliebten Dinosauriern. Dennoch war es ein Schock gewesen, als Pertti in den Frühnachrichten dieses Neujahrstages hörte, dass das letzte Eisbärweibchen in der Nacht im Eisbärencenter von Spitzbergen verendet war. Und das, obwohl man vor wenigen Tagen noch ganz erfreut berichtet hatte, dass die Bärendame durch künstliche Befruchtung trächtig geworden war. Man hatte diesen großen Erfolg medienwirksam sogar mit Sekt und Kaviar gefeiert. Auch Matti war damals ein Stein vom Herzen gefallen und er hatte seinem Eisbären ins Ohr geflüstert, dass nun alles wieder gut wäre. Umso schwerer fiel es Pertti nun, da er seinen Sohn an diesem Neujahrsmorgen aufweckte, die traurige Nachricht zu überbringen, bevor dieser etwas spitz kriegte. Wie sollte er bloß beginnen? Nachdem sein Sohn sich in seinem Bett aufgesetzt hatte, fasste sich Pertti ein Herz. “Matti”, sagte er, “es ist etwas Trauriges passiert.” Dieser starrte ihn mit erschrecktem Blick an, doch noch ehe er etwas erwidern konnte, setzte Pertti fort. “Heute Nacht ist Mina, das letzte Eisbärenweibchen, in Spitzbergen gestorben.” Matti blieb weiterhin mit seinem starren Blick sitzen. “Es tut mir leid”, fügte Pertti hinzu und wollte seinen Sohn am Kopf streicheln. Dieser aber stieß ihn mit einer schnellen Bewegung seines Armes weg und rannte mit seinem Stoffeisbären ins Badezimmer. Dort schloss er sich ein. Als Pertti zur Badezimmertüre kam, hörte er von drinnen ein lautes, herzzerreißendes Schluchzen. Auf seine beruhigenden Worte reagierte der Junge überhaupt nicht, vielmehr schien es, als würde sein Weinen immer stärker. Er ließ seinen Sohn gewähren und ging in die Küche um sich einen Schluck Wasser zu genehmigen. Dabei überlegt er, wie er seinen Sohn beruhigen könnte. Schließlich weckte er seine Frau und bat sie um Hilfe. Aber auch Irmelis Bemühungen waren vergebens. Dem Schluchzen hinter der Badezimmertüre folgten heftige, hasserfüllte Worte. “Mörder”, schrie Matti. “Ihr Mörderbande, ihr!” Dann trommelte er mit seinen Fäusten von innen gegen die Türe und schrie erneut “Mörder!”. Irmeli und ihr Mann standen ratlos herum und wussten weder ein noch aus. Da klopfte es auch noch an der Wohnungstüre. Davor stand die alte Nachbarin, die wutentbrannt sofort die Rückgabe des Eisbären forderte, den sie Matti vor Jahren mit Vorbehalt geschenkt hatte. Pertti lud sie in seiner Verzweiflung ein, ihr Glück bei Matti zu versuchen. Er erzählte ihr in kurzen Worten, was vorgefallen war. Die alte Dame erstarrte und begann kurz darauf ungehemmt zu weinen. “Mörderbande!”, flüsterte sie. Als sie sich gefasst hatte, ging sie zur Badezimmertüre, klopfte und sagte mit starker, lauter Stimme: “Komm, Matti, genug geheult, lass uns diese Mörderbande finden und den Tod der Eisbären rächen.” Und kurze Zeit später ergänzte sie: “Und zuerst machen wir uns einen Kakao und überlegen uns, wie wir das am besten hinkriegen.” Es dauerte nicht lange, da öffnete Matti mit tränengeröteten Augen und ebensolcher Nase die Türe, seinen Eisbären unter den Arm geklemmt. Er nahm die ihm angebotene Hand, schaute seine Eltern mit eisigem Blick an, flüsterte ihnen ein heftiges “Mörder ihr!” zu und zog mit der Nachbarin ab. Am gleichen Abend kamen in den Nachrichten Forscher zu Wort, die es für möglich hielten, aus den in den letzten Jahren für alle Fälle aufbewahrten Stammzellen der Eisbären, solche zu klonen. “Wir werden uns doch von dieser primitiven Natur nicht unterkriegen lassen!”, so die eine. Und ein anderer: “Der Mensch ist doch die Herrenrasse hier, geboren um die Welt nach seinen Vorstellungen zu gestalten. Also lasset uns Tiere machen nach unserem Abbild.” Das breite Grinsen dieses Typen wirkte in Pertti noch lange nach.
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Beitrag für "Dichter-Promenaden" der Grazer AutorInnen-Versammlung am 6.6.15 Es war einmal eine Zeit, in der machte die Porzeallangasse ihrem Namen alle Ehre. Von 1718-1864 befand sich hier die Wiener Porzellanmanufaktur des Claudius du Paquier. Wie wir im Vorbeigehen gesehen haben ist die Fabrik heute weit profaneren Gebäuden gewichen.
Aber damals vor knapp 300 Jahren da war was los in dieser Gassen, die bis 1778 noch Hauptgasse bzw. Landstraße geheißen hatte. Im Teil zwischen Berggasse und Bauernfeldplatz nannte man sie bis 1862 wegen der dort ansässigen Huf- und Wagenschmieden Schmiedgasse. Wie also konnte es soweit kommen, dass das Profane das Heilige dieser Gasse abgelöst hat? Das beruht auf einem großen Missverständnis, so wird erzählt: In den Aufstiegs- und Erfolgsjahren seiner Porzellanmanufaktur veranstaltete der Inhaber Claudius du Paquier alljährlich zur Sommersonnenwende ein großes Bahö. Er stellte die Ausschussware seiner Fabrik ab 15 Uhr mit der Auflage zur Verfügung, dass sie möglichst laut und ausdrucksstark zerschlagen würde. Jeder war eingeladen, sich an diesem Trara zu beteiligen. Es stand unter dem Motto: “Scherben bringen Glück”. Und so ließen es sich die Wienerinnen und Wiener nicht entgehen, einmal im Jahr dieses Glück durch die schallende Zerstörung des Porzellans des Herrn du Paquier zu beschwören. Das ging auch einige Jahre gut und alle hatten eine Riesen-Hetz. Aber die Zeiten ändern sich und mit ihr auch die Stimmung der Menschen, denen die Freude an der Volksbelustigung verging, spätestens als Napoleon kam und den Kaiser aus dem Schloss Schönbrunn jagte. Da machte sich erstmals die Kunde breit, dass der Spruch von den Scherben eigentlich anders gemeint war. Seine ursprüngliche Bedeutung habe darauf hinweisen wollen, dass die Scherben - wie gebrannte Tongefäße einst geheißen wurden -, wenn sie prall mit Lebensmitteln gefüllt waren, ein richtiger Segen waren. Die durfte man keineswegs zerstören, sonst war mit ihnen auch ihr Inhalt dahin, hin. Und es entstand das geflügelte Wort vom zerschlagenen Porzellan, dass wir auch heute noch verwenden, wenn jemand Unheil anrichtet. Es folgte eine Friedenszeit, in der die Manufactur das alte Brauchtum wider besseren Wissens neuerlich aufzunehmen pflegte. Als der Kaiser Franz Josef ahnte, dass diese lange Friedenszeit zu Ende gehen würde, soll er sich - so wird gemunkelt - , intensiv darum bemüht haben, in Böhmen billiger produzieren zu lassen, so dass die Porzellanmanufaktur 1864 endgültig geschlossen werden musste. Er wollte mit dieser Maßnahme verhinder, in ähnliche Schwierigkeiten wie sein Namensvetter zu kommen. Die Geschichte aber lehrt uns anderes. Es folgten unruhige Zeiten, die ein halbes Jahrhundert später im ersten großen Weltkrieg endeten. Der Kaiser überlebte nicht, aber dafür die Suche nach dem Glück, die so alt ist wie die Menschheit selbst. Und so haben sich noch bis vor kurzem, hier im Cafe Porzellan, die alten Damen und Herren bei Kaffee oder Bier nicht nur den neuesten Tratsch und Klatsch gewidmet sondern auch das eine oder andere Spiel am Automaten gewagt. Aber auch damit ist es nun endgültig vorbei, selbst das kleine Glück ist hier in Wien mittlerweile verboten und da dasselbe bekanntlich a Vogerl is, hat es sich sicher anderswo niedergelassen. Vielleicht tät sich’s lohnen danach außerhalb Wiens zu suchen, wer weiß? Beitrag für "Dichter-Promenaden" der Grazer AutorInnen-Versammlung am 6.6.15 Der große Franz Josef war einmal der kleine Franzi und auch der uns bekannte alte Kaiser war einmal ein junger Bub. So wie dieses Gebäude da auch schon andere, ich sage, bessere Zeiten gesehn hat. Oder, was meinen Sie?
Das Leben eines kleinen Jungen, der einmal Kaiser werden sollte, muss doch traumhaft sein, denken sich viele. Aber, wir Kenner der Welt, wir ahnen nicht nur, wir wissen, dass Träume auch Alpträume werden können. Auch wenn einem zuviel Aufmerksamkeit zu Teil wird, kann das auf eine solche Weise ausarten. So wurde der kleine Franz ob seiner besonderen Stellung schon bald von seiner nächsten Umgebung “Gottheiterl” gerufen. Und der Franzi zahlte mit gleicher Münze zurück und sagte seiner Kinderfrau, der Aja, eines Tages in seiner uendlichen Liebe: “Wenn du einmal stirbst, lass ich dich ausstopfen!” Schon bald war’s vorbei mit der liebevollen Fürsorge der Baronin Sturmfeder, die ihn im Auftrag seiner Mutter Sophie gehegt und gepflegt hatte. Dem Franzi wurde mit Heinrich Franz Graf Bombelles ein Ajo zur Seite gestellt. Nun standen die Vermittlung von Pflichtgefühl, Religiosität und dynastischem Bewusstsein am Tagesplan, den seine Mutter Sophie und Staatskanzler Metternich zusammengestellt hatten. Neben dem Erwerb aller Sprachen der Monarchie sowie des Lateinischen und des Altgriechischen lag der Schwerpunkt auf Schwimmen, Fechten, Reiten und Tanzen sowie dem Erlernen militärisch-strategischer Grundkenntnisse. Mit 7 war er dadurch bereits 32 Wochenstunden im Einsatz. Als er neun war, der kleine Franz, hatte er einmal so genug von den Anweisungen seines Ajo, dass er einfach davon lief. Da flogen die Türen im Schloß Schönbrunn und als der Ajo beichten musste, dass er zukünftige Kaiser von Österreich und König von Ungarn entlaufen war, flogen die Fetzen. Franz hatte seine höfische Kleidung abgelegt und rannte in Hemd und Hosen einfach den Fluss entlang. Als ihm die Schuhe zu eng wurden ließ er auch sie liegen und rannte in Strümpfen weiter, als diese löchrig wurden, setzte er seine Flucht barfuß fort. Alle, denen er begegnete, wunderten sich über den laufenden Jungen, keiner aber kam auf die Idee, dass sie den Kaiserspross vor sich hatten. Er lief und ging und lief wieder und ging wieder bis der Fluss in einen größeren mündete. Dort angekommen verschnaufte er ein wenig, sah dem regen Treiben der Schiffe und Boote zu und bekam unendliches Fernweh. Wenig später ging’s weiter, diesen großen Fluß entlang. Dann aber nach gut zwei Stunden Wegs wurde der Franzi erstmals müde. Irgendwie ging ihm die Kraft aus und er bekam schreckliches Heimweh. Seine Füße schmerzten, sie waren nicht nur schmutzig sondern bluteten auch an der einen und der anderen Stelle. In diesem Moment wollte er nichts lieber tun, als laut nach seiner Mama rufen. Aber er wusste einerseits sich zu benehmen - was ihm eingetrichtert worden war - und andererseits um die Aussichtslosigkeit dieses Unterfangens. Was er nicht wusste war, wo genau er sich nun befand. Er blickte also hilflos um sich. Und da tat sich ein wunderbarer Garten vor ihm auf, sehr viel kleiner zwar als der ihm gewohnte Schloßgarten, aber er erinnerte ihn an diesen. So rannte er obgleich ganz außer Atem drauflos und sank unter einem Baum im Garten nieder. Das Heimweh ließ nicht nach. Er weinte und schluchzte und dann betete zum Herrgott inständig um Rettung wie man es ihn gelehrt hatte. Er versprach dem Allmächtigen im Fall seines Entsatzes von nun an ein treuer, braver Diener seines Herren zu sein. Darüber fiel er in einen tiefen Schlaf, aus dem er unsanft mit Fußtritten geweckt wurde. Er hatte alle Hände und Füße voll zu tun, um dem Diener des Hauses Althan-Phouton seine Abstammung zu erklären. Aber erst als er in allen ihm bekannten Sprachen inklusive des Französichen zu schimpfen begann, schickte der Diener einen Boten ins Kaiserhaus. Und kurze Zeit später war Franzi wieder im Schloß zurück und in den Armen seiner strengen Mutter, die diesmal herzlich froh schien. Diese aber wusste zu verhindern, dass er in diesem Zustand dem Vater unter die Augen treten musste. So gingen die Jahre ins Land, aus dem Franzi wurde der Erzherzog Franz, aus dem 9-jährigen ein 13-jähriger der an seinem Geburtstag zum Obersten des Dragonerregiments Nr. 3 ernannt wurde. Er stellte sich fortan wie dem Herrgott versprochen treu seiner weiteren Dressur zum Herrscher und Diener seines Landes. Mit 18 wurde aus dem Erzherzog Franz der Kaiser Franz Joseph. Joseph deswegen weil man die Bevölkerung an den großen Kaiser Josef II. erinnern wollte. Erst 30 Jahre nach seinem Ausbruch aus den kaiserlichen Verhältnissen war er seines Lebens abermals überdrüssig. Ja, auch im 19. Jahrhundert gab es schon die Midlife-Crisis und auch kaiserliche Hoheiten waren davor nicht gefeit. Kaiser Franz Josef war inzwischen unglücklich verheiratet, Vater von 4 Kindern, hatte sich in den Schlachten von Solferino und Magenta und im Krieg gegen die Preußen als schlechter Feldherr erwiesen und war zum Apostolischen König von Ungarn gekrönt worden. Er hatte dieses Leben satt. Das Fernweh des Neunjährigen keimte auf. Sein Blick auf die Schiffe am Donaukanal, bei dem er es so starkes Sehnen empfunden hatte, hatte sich tief in sein Inneres eingebrannt. Das schlechte Gewissen plagte ihn zwar immer wieder ob dieser Gedanken, aber er fasste einen Entschluss. Er wollte fliehen. Das war aber nicht mehr ganz so einfach wie dreißig Jahre zuvor, als Türen und Fetzen flogen im Schloss Schönbrunn. So heckte er einen geheimne Plan aus. Er wollte ans Meer und dann weiter übers Meer, weit, weit fort nach Südamerika. Da die Bahnlinie, die ihm zu Ehren von Pilsen nach Budweis errichtet wurde, um Böhmen mit Triest zu verbinden vor kurzem bis nach Eggenberg im Waldviertel verlängert worden war, beauftragte er die Beschleunigung der Arbeiten für den Weiterbau nach Wien. Aber der Bahnhofsbau verzögerte sich durch einen Streit zwischen der Gemeinde Wien und der Betreibergesellschaft. Der Kaiser erinnerte sich seiner schlechten Behandlung im Palais Althan-Phouton und mischte sich in den Konflikt ein, in dem er den Streithanseln das Areal des Palais für den Bahnhofsbau anbot. Schon wenig später wurden die Besitzer enteignet und das Palais geschliffen. 3 Jahre später stand dort der Franz Josefsbahnhof, das Tor in die Freiheit für den Kaiser. Warum er dann doch nie geflohen ist und seiner Sehnsucht nachgegebne hat, wollen Sie wissen? Darüber ist nichts verzeichnet und somit Spekulationen Tür und Tor geöffnet. War’s sein einst dem Herrgott gegebenes Versprechen, das ihn davon abhielt, waren’s seine von seiner Gattin Sisi ob ihrer Befreiung eingefädelten Liebschaften, die ihn im Kaiserreich hielten oder bloß seine erlahmenden Kräfte und wachsenden Depressionen ... Wir werden es nie wissen, aber wir wissen ein’s: dass er noch viel zu ertragen hatte und viele mit ihm viel zu ertragen hatten, ehe er am 21. November 1916 im Schloß Schönbrunn das Zeitliche segnete. |
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