Er starrt ins Jenseits, mitten hinein in die Wälder, dorthin wo Ruhe waltet. Die Scheibenwischer ziehen ihre Bahnen, um den dichter werdenden Schneefall in Schach zu halten und ihm den klaren Blick ins Außen zu erhalten. Wie er hier an den Waldrand gelangt ist, daran fehlt ihm jegliche Erinnerung. Er weiß noch von seinem Aufbruch hierher nach den Schrecken des Morgens. In diesem Augenblick ist er sich seines Daseins bewusster denn je. Aus seinem No-Name-Leben hat es ihn heute früh hinein in die Mitte dieses Seins gezogen, das er lange schon ersehnt hatte.
Der Motor läuft noch, aus den Lüftungsschlitzen bläst ihm ein warmer, gleichmäßiger Luftzug entgegen, der ihm eine Erinnerung an eine ferne Zeit schenkt, als er von der Felsenküste aus übers sanft bewegte Meer geblickt hatte, einem sonnenuntergangsgeschwängerten Horizont entgegen. Damals hatte er mit einem Mal gewusst, dass da noch etwas kommen würde. Etwas, das ihn erheben würde über die Niederungen seines Lebens, ihn hoch hinauf katapultieren würde, dieser Sonne entgegen, frei wie Ikarus und mächtig, das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. In der Morgendämmerung dieses Tages hat er sich dazu ermächtigt, so viele Jahre, wenn nicht Jahrzehnte später. Er hat sich seiner Existenz entledigt, dieser fortlaufenden Erniedrigung durch eine Aneinaderreihung von Sachzwängen. Zuerst hat das sein Chef zu spüren bekommen, der seine Fähigkeiten nie erkannt hatte, eine Begabung, die ihm durch seine Kindheit in den Schoß gefallen war. Er war gestählt worden im Kampf mit dem Feind, er hatte sich fast 17 Jahre lang in einen Kokon begeben, hatte dem Orkan der väterlichen Worte und Taten getrotzt und dem flehenden Gejammer der Mutter, er möge doch bitte, bitte ihr Leben nicht zerstören. So viele Stimmen in seinem Kopf hatte er aushalten gelernt, hatte sich mit ihnen arrangiert, hatte sie einmal liebevoll schmeichelnd, dann wieder herrisch anfahrend zumindest für kurze Zeit zum Schweigen gebracht. So viele Masken hatte er tragen gelernt. Er war der brave Bub gewesen, der angepasste, der halt in der Schule nicht so recht funktionieren wollte, der aber mit Hilfe des Bitten und Bettelns seiner Mutter bei den Lehrern den Schulabschluss hingekriegt hatte. Er war der willfährige Junge gewesen, der eine Lehre zum Bankkaufmann, die ihm sein Vater bei einem alten Schulfreund vermittelt hatte, begonnen hatte. Er war der undankbare Sohn gewesen, der dieses Lehre abgebrochen hatte, und mit den Konsequenzen seines Fehlverhaltens leben lernen hatte müssen. Mit 17 war er auf der Straße gestanden, weggeworfen, ausgesaugt und nichtsnutzig, verstoßen für alle Zeiten - unter den Tränen seiner zu Tode bekümmerten Mutter, deren Leben nur wenige Monate danach zu Ende gegangen war. Friedlich entschlafen sei sie, hatte der Vater bei seiner Abschiedsrede am offenen Grab gesagt, an dem er als Zaungast teilgenommen hatte, hinter dem Grabstein von Erni, seiner ersten großen noch kindlichen Liebe, die mit 14 samt ihrer Freundin Bea mutig in die Ewigkeit geflogen war. Dorthin, wo sich damals auch seine Mutter mit Hilfe zweier Packungen Dormiol hineingeschlafen hatte. Ihren Abschiedsbrief hatte er erst beim Räumen der väterlichen Wohnung gefunden, einige Wochen nach dessen Tod, den dieser durch Ertränken seines Lebens im Alkohol hervorgerufen hatte. Darin hatte sie sich bei ihm entschuldigt, hatte von Buße gesprochen, die sie zu tun hätte, hatte von Todesstrafe gesprochen, die sie verdient hätte, weil sie seinem Seelenmord tatenlos zugeschaut hätte. Damit hätte sie das Leben ihres einzigen Sohnes so gnadenlos aufs Spiel gesetzt. Stolz wäre sie auf ihn gewesen, dass er es soweit gebracht hätte, dass er sein Leben ob seiner Stärke alleine zu meistern im Stande wäre. Zumindest das wollte sie sich als Gutschrift anrechnen lassen, wenn sie dereinst vor ihrem Richter stünde. Wo auch immer sie den Erfolg gesehen hat, den sie ihm mit diesen Worten zugeschrieben hatte, ist ihm bis heute nicht klar. Plötzlich schmerzt ihn seine linke Seite, wie von einer offenen Wunde geplagt lässt er sich in den Sitz zurückfallen und schließt für einen Moment die Augen. Er tastet nach seiner Herzgegend und als er die Augen wieder aufschlägt, sind seine Hände voller Blut. Er blickt an seinem Hemd hinunter, das blutgetränkt ist. Abermals schließt er die Augen. Die Bilder, die sich ihm bieten, sind so abscheulich, dass er schnell wieder ins Außen, in Richtung Ruhe schaut. Hat tatsächlich er dieses Blutbad angerichtet, das kurz zuvor wie ein Alptraum aufgeblitzt ist und ihn schweißgebadet zurückgelassen hat inmitten dieser weißen Pracht, die allen Kindern dieser Welt die helle Freude ist? Noch etwas blitzt auf in ihm, als er die schneebedeckten Bäume durch die Windschutzscheibe betrachtet. Ein Moment unbeschwerter Ewigkeit als er eines Morgens gleich nach Tagesanbruch heimlich aus dem Haus geschlichen war, hier an den Rand dieses Waldes, und sich ins Leben fallen lassen hatte. Er hatte Arme und Beine bewegt und auf diese Weise den knietiefen Schnee zur Seite geschoben. Kurze Zeit später hatte er sich selbst als Engel wiedererkannt, als einer von dem seine Großmutter ihm öfter erzählt hatte, er hatte die Schwerelosigkeit gespürt, aus der er kurze Zeit später wieder in seine Wirklichkeit gestürzt worden war. An diesem Tag, zurückgekehrt an den Rand seiner Zukunft, nimmt er nur noch die Folgen dieser Bruchlandung war, seine Versuche diesen kurzen Moment davor nochmals zu reproduzieren - so wie er es unzählige Male getan hatte, um der Wahrheit zu entkommen - misslingen und er sitzt da, hinter dem Steuer seines Wagens und sieht sich selbst als gefallenen, aus dem Paradies verstoßenen Engel; er selbst als Luzifer, der durch diesen Fall als verquerer Lichtträger Genötigte. Es war niemals leicht gewesen doch am Morgen dieses Tages ist plötzlich alles ganz einfach gewesen. Er hat sein StG 77 aus dem Spind genommen, die über einen langen Zeitraum bei diversen Schießübungen eingesparten Patronen vom Kaliber 5,56 ins Magazin geschoben, zwei weitere Magazine damit gefüllt und den Rest in die Jackentaschen gesteckt, und ist losgezogen über den Kasernenhof, aufs Ziel fokussiert: die Kanzlei seines Kommandanten. Er ist am überraschten Kompanieschreiber vorbeigestürzt, ist weiter gegen die Tür des Befehlshabers gestürzt, die seinem gewaltigen Fußtritt im Nu nachgegeben hat und hat sein Ziel Schriftstücke studierend an seinem Schreibtisch sitzend vorgefunden. 2700 m Höchstschussweite, 300 m Einsatzschussweite, theoretische Schussfolge 700 Schuss pro Minute, VO 990 Meter in der Sekunde. Wie oft hatte er diese Daten gebetsmühlenartig dem Meister der Einheit zackig ins Gesicht schleudern müssen. Er hat noch eine Sekunde gewartet und als der Blick seines Chefs auf ihn gefallen ist, hat er abgedrückt. Dauerfeuer. Nach zehn Schuss ist die Stimme ohne noch einen letzten Befehl geben zu können für immer verstummt, die Stimme, die ihn gequält und gequält hatte, die ihn erniedrigt hatte und ihm den letzten Tropfen der Hoffnung geraubt hatte. Diese hatte er in den Anfängen seiner Dienstzeit hier noch gehegt, da er der bessere Soldat als sein Vater hatte werden wollen. Er hat sich umgedreht, da sind plötzlich zwei, die sich auf ihn werfen haben wollen, hinter ihm gestanden und er hat nochmals abgedrückt. Dauerfeuer. Zwei weitere Mann gefallen im Krieg für das Gute, das Licht zurückzubringen in diese dunkle, verdorbene, gottlose Welt. Wenn das einer konnte, dann er, der vom Mal seiner Kindheit auserkorene Lichtträger. Er hat dann das Magazin gewechselt und ist mit der Waffe im Anschlag über den Kasernenhof gerannt, der in der Dämmerung des anbrechenden Tages noch ziemlich verschlafen dagelegen ist. Knapp vor der Ausfahrt hatte er seinen Wagen unverschlossen geparkt, ist in ihn hineingesprungen um in einem Höllentempo an den verdutzten Wachen vorbei jene Schranke zu durchbrechen, die ihn so oft von seiner Freiheit getrennt hatte. Ihr hatte er sich täglich ausgeliefert, an ihr war er oft minutenlang gestanden, ehe er zum Eintreten bereit gewesen war. Sie hatte ihm aber auch Sicherheit gegeben; dennoch hatte er sich hinter ihr so oft wie im Gefängnis gefühlt. Weiter ist es gegangen, in das Haus seiner Eltern, das ihm nach deren Tod wieder zur Heimstatt geworden war. Das Haus, in dem er mit der Gründung einer eigenen Familie alles auslöschen hatte wollen, das sein Leben so tragisch gezeichnet hatte. Er hatte alle Möbel ausgetauscht, die Zimmer gewechselt, den Wänden neue, lebendige Farben gegeben, hatte wie im Rausch an einem neuen, befreiten Leben gearbeitet, einem Künstler gleich, der auf diese Weise das Werk seines Lebens schaffen hatte wollen. Er hatte eine Frau gefunden beim Tanz am Feuerwehrfest, inmitten eines Schlagers seiner Kindheit, den seine Mutter schon so geliebt hatte, zu dem sie sich in der Küche so oft sanft gewiegt hatte. In diesen Momenten hatte sie diesen einzigartigen, glücklichen Gesichtsausdruck gehabt, der ihr im Rest ihres Lebens gefehlt hatte. An diesem Morgen ist seine Frau in der Küche gestanden und hat gerade die Milch aufgebrüht für das Fläschchen des Jüngsten. “Du schon wieder” waren ihre letzten Worte gewesen, ehe der Krieger des Lichts sie mit unzähligen Schüssen niedergestreckt hat. Nie wieder würde sie ihn mit ihren Vorwürfen quälen, nie wieder würde sie ihm mehr abverlangen können, als er zu schaffen vermochte. Nie wieder würde sie ihn im Kreise der Freunde der Lächerlichkeit preisgeben können, mit ihren abfälligen Bemerkungen über seine Männlichkeit seinen Männerstolz beschmutzen. Er hat sich zu ihr gekniet, ihr die Augen geschlossen und noch bevor die ältere Tochter ihre Mutter erreichen hat können, hat er auch sie im Flur vom Leben erlöst. Nie sollten seine Kinder das gleiche durchmachen müssen wie er, nie sollten sie das erleben, was ihm das Leben geraubt hatte. Auch zu ihr hat er sich kurz hingekniet, war ihr noch einmal sanft durchs Haar gefahren, hat auch ihr die Augen geschlossen. Er hat ihre Seele mit Engelsflügeln immer höher steigen sehen, doch war dieses Emporsteigen von unmenschlichem Wehklagen begleitet, das auch noch nachgehallt hat, als er in seinem Wagen schon Richtung Wald unterwegs gewesen ist. Aus dem Kinderzimmer ist das Schreien des Jüngsten zu hören gewesen, der auf seine Milch mit Honig gehofft hat. Stattdessen hat er noch Süßeres bekommen, den Frieden und jene Ruhe, die nur die Ewigkeit zu geben im Stande ist. Still und stumm und mit von den Tränen gequältem Gesicht ist er dagelegen, sein weißer Strampler hat sich binnen Sekunden rot gefärbt und seine Unschuld ist in diesem Augenblick endgültig gemeinsam mit seinem Leben gewichen. Ihm hat er nicht in die Augen sehen können, mit abgewandtem Blick hat er ihm noch einmal über den Kopf gestreichelt und dann auch die Augen seines Sohnes für immer geschlossen. Die Waffe liegt immer noch am Beifahrersitz als das Brummen des Motors und das rhythmische Geräusch der Scheibenwischer gleichzeitig mit der warmen Brise an den Stränden Kroatiens erstirbt. Es herrscht nun jene Stille, die sich seine Mutter für ihr Leben immer gewünscht hatte und die auch er besonders an den Weihnachtsabenden immer erhofft hatte. Eine Zeit lang starrt er noch der Ruhe entgegen, die die Wälder ihm jetzt für alle Zeit zu geben bereit sind. Er steigt aus dem Wagen, holt den Spaten aus dem Kofferraum seines Kombis und schreitet langsam, bedächtig und in Gedanken unter den Schutz der mächtigen Bäume, deren Leben lange vor seinem begonnen hatte. Im letzten Schweiße seines Angesichts hebt er einmal noch einen Schützengraben aus. Diesmal aber will er sich nicht mehr wehren und mit dem Gewehr im Anschlag auf den Feind warten, um sein Leben zu retten. Diesmal legt er sich nach getaner Arbeit in der Aushebung ausgestreckt auf den Rücken, starrt in die weiße Pracht, die in einem wilden Durcheinander vom Himmel stürzt, so wie er einst von dort oben gestürzt worden war. Sie löscht nach und nach das Rot seiner Taten und - sein Leben.
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