Der Donner war gerührt.
Eben hatte er eine seiner legendären Intuitionen gehabt. Was für die einen wie ein Lottogewinn war, also praktisch nie im Leben eintrat, stand für ihn plötzlich und unverhofft immer wieder auf der Tagesordnung. Meist in jenen Zeiten, in denen er mit dem einen Klienten, mit dem er gerade arbeitete, völlig anstand, offenbarte sich ihm für einen anderen, der gerade nicht anwesend war, eine bahnbrechende Lösung. Mit Susi Wolf war er wieder einmal am Ende angekommen. Sie saß am Ledersofa und hing seit Minuten angespannt und mit tränenerfüllten Augen an seinen Lippen, um diesen die erlösenden Worte zu entringen. Sein Blick fiel durch die Fenster, an denen der Regen wie Tränen herunterlief, zur Dachterrasse seiner Praxis, streifte das vom Sturmwind zerfetzte Papierschild, das seine Kollegin am rostigen Geländer angebracht hatte, um auf dessen Defekt hinzuweisen und vor dessen Berührung zu warnen, schweifte weiter in die Ferne und blieb am gegenüberliegenden Küniglberg und einer der Machtzentralen dieses Landes hängen. In diesem Moment wusste er, dass er K.H. Gessler zu einem Outing vor laufender Kamera raten musste. Er sprang aus seinem Lederfauteuil auf, nahm das Wasserglas vom gläsernen Beistelltischchen und ging Richtung Fenster. Als er am Sofa vorbeikam und noch bevor er einen Schluck nehmen konnte, fasste Susi Wolf seine Hand und hauchte: “Wir sollten es endlich miteinander versuchen!” Er blieb wie angewurzelt stehen. Sein ungläubiger Blick traf Susi ins Herz. “Ich meinte ja nur!”, nuschelte sie. Donner atmete tief durch. Er löste Susis Hand, stellte das Wasserglas zurück auf den Tisch und setzte sich ihr gegenüber zurück in seinen Fauteuil. Dann blickt er ihr tief in ihre wassergrünen Augen. “Du hast recht, Susi!”, sagte er entschlossen. “Oh, Peter, meinst du das ernst?”, fragte Susi und dann sprudelte sie los: “Du weißt gar nicht, was mir das bedeutet. Das ist, als wären die Spangen auf meiner Seele gelöst, eine nach der anderen. Pling. Und: Plong. Und: Plang. Hörst du das?” Donner starrte entgeistert in die Leere. Wo hatte er sich da wieder hineingeritten in den für ihn typischen Pferdegalopp, mit nur einem unbedachten Wort. Dieser spontanen Eingebung konnte er im Moment keinen heilsamen Charakter abgewinnen. Außerdem zweifelte er an der Richtigkeit seiner Intuition, denn Intuitionen haben ein Problem: wenn sie nicht aus der Tiefe des Selbst kamen, waren sie wertlos. Sie schienen dann bloß dorther zu kommen, waren aber mit ziemlicher Sicherheit Ansagen des Über-Ichs. Und wenn man da nicht höllisch aufpasste saß man damit auf der Gegenseite des Himmels, mitten in der großen irdischen Scheiße. So fühlte sich das jetzt an. “Schlaf nochmal drüber und lass uns in der nächsten Stunde weiterreden, nächste Woche selber Tag, selbe Zeit?”. Peter versuchte sich an Land zu retten, ehe ihm die braune Brühe bis zum Hals stand. Aber Susi ließ noch nicht locker. “Wir haben noch zehn Minuten, Peter” rügte sie ihn. Er blickte gedankenverloren auf seinen Aviator, der nur vorgab einer zu sein, weil dahinter eigentlich nichts als eine Batterie und ein Computerchip hausten. Aber er machte Eindruck. Nicht nur auf ihn. “Tatsächlich”, stellte er fest, nahm einen Schluck aus seinem Wasserglas, räusperte sich und sagte: “Na, dann leg mal los!” Die Wolf nahm das wörtlich. Während sie also ihre letzten zehn Minuten der laufenden Stunde nützte, um Altbekanntes wiederzukäuen, erlaubte sich Donner einen Exkurs in die Vergangenheit, genauer gesagt zurück zu jenem Moment, da er Susi kennen gelernt hatte. Es war noch gar nicht so lange her gewesen, im Sommer vor einem Jahr, da war er beschwingt, frisch verliebt und voller Tatendrang durch den nahe gelegenen Schlosspark spaziert. Plötzlich hatte er ein leises Wimmern gehört. Dazu muss man wissen, dass Peter Donner ein sehr feines Gehör hatte, vor allem für die Zartbesaiteten, Hilf- und Schutzlosen. Dieses hatte er schon vor vielen, vielen Jahren zum Beruf gemacht und damit bislang auch ganz gut verdient, aber noch mehr ausgegeben. Also, ob es nun ein Wimmern gewesen war oder ein leises Schluchzen, wusste er nun nicht mehr so richtig, ganz genau war es auch damals nicht zu definieren gewesen. Zuerst hatte er an das Jammern einer Katze gedacht und hatte seine Aufmerksamkeit schon anderem zuwenden wollen; da war es ihm wieder durch Mark und Bein gefahren und er hatte diesem, wie er meinte, Hilferuf unbedingt folgen müssen. In einer Seitenallee war eine Frau gesessen, in sich zusammengesunken so dass man nur noch den Berg ihres hochgesteckten roten Haares hatte sehen können, der aus der Halsöffnung eines getigerten Mantels herausgeragt war. Dieser hatte knapp über ihren Knien geendet, danach waren sehr schlanke Beine gefolgt, die in eine schwarze Nylonstrumpfhose mit Blumenmuster gehüllt gewesen und in viel zu große, hochhackige Boots gesteckt waren. Donner hatte es bei diesem Anblick direkt an ihre Seite gezogen und so hatte er sich wenige Sekunden später schon neben der – wie sich später herausgestellt hatte – jungen Dame sitzend befunden und ihr seine Hand auf ihre Schulter gelegt gehabt. „Was ist denn so schlimm?“, waren seine ersten Worte gewesen, die er Susi jemals anvertraut hatte. Daraufhin war das Wimmern in ein lautes, haltloses Schluchzen übergegangen, dem ein noch heftigeres und lauteres Schreien gefolgt war. In der Zwischenzeit war die Frau auch anderen zufällig Vorübergehenden aufgefallen. Während einige kopfschüttelnd weiter gezogen, andere schnellen Schrittes dem für sie Peinlichen der Situation entflohen waren, waren auch einige stehen geblieben, um Zeugen der Szene zu werden. Peter Donner war in seinem Element gewesen, er war wie der Fisch im Wasser geschwommen, war ob der wachsenden Zuschauerzahl aufs höchste motiviert gewesen und hatte im nächsten Satz der heulenden jungen Dame den Schutz seiner Lebensberater-Praxis wenige Gehminuten vom Ort des Geschehens angeboten. In diesem Augenblick hatte Susi kurz auf- und er erstmals in ihre wassergrünen Augen geblickt, die wie sich später noch herausstellen sollte manchmal auch wasserblau oder –grau werden konnten. Danach hatte sie sich mit beiden Händen fest an seinen rechten Oberarm gekrallt und das Schluchzen wieder aufgenommen. Es hatte ihn einige Mühe gekostet mit ihr aufzustehen und wegzugehen, da sich das ganze Gewicht ihres Dramas in ihren Körper gelegt zu haben schien. Aber auch diese Herausforderung hatte Peter Donner, wenn auch nicht mühelos, so doch gemeistert. Eine Stunde später war er mit der kompletten Vita von Susi Wolf vertraut gewesen. Das Klingeln der Türglocke holte ihn nun zurück in die Gegenwart. Susi saß mit offenem Mund am Ledersofa, so als wäre sie gerade mitten im Satz unterbrochen worden. Peter sah auf die Uhr, die Stunde war seit 5 Minuten um. Mit einem leise gehauchten „Du verzeihst“ ging er nach draußen um die Tür für den nächsten Klienten zu öffnen. Zurückgekehrt fragte er Susi: „Also, nächste Woche, selber Tag, selbe Zeit?“ Susi stand auf und antwortete schnippisch: „Wenn du meinst …“ Und fort war sie, wieder einmal ohne bezahlt zu haben. Er hörte noch ein überraschtes „Hopsala“ seines nächsten Kunden, den Susi wahrscheinlich gerade über den Haufen gerannt hatte und dann fiel die Tür seiner Praxis lautstark ins Schloss.
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Februar 2021
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