Es waren die ersten Tropfen seit Wochen. Bea konnte anfangs jedem einzelnen in ihrem Blickfeld folgen, sah den einen auf einem Blatt des Flieders landen und gleich darauf wieder in Richtung Rasen abrutschen, sah einen anderen auf einer der Waschbetonplatten des Gartenweges aufprallen, wo er einen kleinen dunklen Fleck hinterließ, sah einen weiteren den bemoosten Dachziegel netzen. Bald aber wusste sie nicht mehr, welchem der immer zahlreicher werdenden Regentropfen sie nachschauen sollte. Also schloss sie die Augen und lauschte dem Klang des dichter werdenden Regens, hörte dessen Tippen auf den Blättern der Linde über ihr, vernahm dessen Platschen am Fuße der undichten Dachrinne und folgte dessen Klimpern, das er an den Gläsern – eines leer, eines noch halb voll – verursachte. Simon war erst vor wenigen Minuten aufgebrochen, knapp vor Beginn dieses Wolkenbruchs, der sie nun zusehends durchnässte, obwohl sie unter dem dichten Blätterdach saß, das ihren Lieblingsplatz im Garten vor Sonne und normalerweise auch vor Niederschlag schützte. Die durch die Kleidung dringende Feuchtigkeit ließ sie frösteln. Es war ein wohliger Schauer, der ihren ganzen Körper erfasste, unbewusst griffen ihre Hände nach den Lehnen ihres Stuhls und ließen sie sich daran festhalten.
Ihr kurzes Haar fühlte sich an wie damals, als sie in ihrer Jugend regelmäßig mit ihrer Clique schon an den ersten wärmeren Frühlingstagen am Wasser gewesen war, um ihren Kopf neugierig unter dessen Oberfläche zu stecken. Nach dem Auftauchen waren ihr viele kleine Bächlein des Seewassers über die Stirn, die Nase und die Wangen geronnen. Manche von ihnen waren auf ihre Lippen zu gelaufen, wo sie sie einfach zum Spaß mit der Zunge abgeleckt hatte. Sie hatten anders geschmeckt als die Tropfen, die jetzt ihre Lippen berührten. Diese waren bitterer, so wie die Zeiten die sie jetzt durchlebte. Das mit der Süße der Jugend hatte offenbar doch seine Bewandtnis, dachte sie unvermittelt, ehe ihr der kräftige Geruch der mittlerweile durchfeuchteten Holzveranda in die Nase stieg. Wieder war sie zurückversetzt in längst Vergangenes und sah sich unter einem großen Badetuch sitzen mit Simon und den anderen. Rings um sie herum hatten die Himmel ihnen, den Gerechten, getaut und den von der an diesem Tag quälenden Sonne erhitzten Steg herrlich duftend langsam abgekühlt. Die Freiheit, die ihr damals vom Leben geschenkt worden war, war für sie selbstverständlich gewesen. Sie aber hatte immer noch mehr davon haben wollen, hatte tiefer hinein wollen und höher hinaus. Sie war schon als Kind bis zum Grund des Sees getaucht, zuerst bloß in Ufernähe, später in ihrer Jugend hatte sie sich dann von Simon hinausrudern lassen bis zu der Stelle, an der das Wasser laut den Einheimischen am tiefsten sein hatte sollen. Ganze zwei Minuten war sie da regelmäßig unter der Oberfläche gewesen, hatte mit kräftigen Tempi die Finsternis durchpflügt und das eine oder andere Mal auch etwas vom Grund mitgebracht. Einmal hatte sie sich an der Hand an einem rostigen, im Schlamm steckenden Metallteil geschnitten, den sie trotz höchsten Krafteinsatzes nicht bergen hatte können, wodurch seine Identität für immer im Dunkel blieb. Simon war wunderbar besorgt gewesen, hatte sie schnell aus dem Wasser ins Boot gezogen und dann ihre blutende Hand liebevoll in sein Handtuch gewickelt. Nur seiner Umarmung hatte sie sich schnell entziehen müssen. Die hatte sich unter diesen Umständen völlig unangemessen angefühlt. So schnell war er niemals zuvor und auch nur einmal danach zurück ans Ufer gerudert. Am Steg war sie prompt zu ihrer Großmutter losgelaufen, um sich von ihr verarzten zu lassen, die eingebundene Hand in die Höhe haltend um die Blutung weiterhin zu stoppen. Von da an war etwas anders gewesen in ihrem Verhältnis zu Simon, den sie schon seit Grundschultagen gekannt hatte. Die nächste Begegnung hatte sich so angefühlt, als wäre das Jetzt mit ihm dauerhaft und unangenehm beschattet. Dennoch war ihr dieser Simon trotzdem und trotz allem, was noch gefolgt war, bis in die Gegenwart geblieben; vor kurzem aber – nach dieser von ihr in einem Wirbel der Gefühle geäußerten und daher unbedachten Worte - war auch er gegangen. Die Heftigkeit seines Aufbruchs, die das Tischchen erzittern hatte lassen und die auf ihm befindlichen Gläser zum Vibrieren gebracht hatte, war ihr noch schmerzlich in Erinnerung. Der Schauder darüber, der ihr eine sie beengende Gänsehaut bescherte, ließ ihren Atem flacher werden. In diesem Augenblick stand zu befürchten, dass er diesmal für länger, wenn nicht für immer verschwunden war. Sie klammerte sich neuerlich an die Armlehnen ihres Stuhls. Warum nur musste es in diesen Situationen immer so enden, dass er ging? Vielleicht weil sie nicht zu gehen in der Lage war? Nicht mehr. Seither war immer er es gewesen, der sich von ihr entfernt hatte, mal schneller, mal langsamer, mal für kürzere, mal für längere Zeit. Aber nie hatte sie das Gefühl gehabt, dass es jetzt aus und vorbei wäre. Das war in diesem Moment anders. Der Regenschauer ließ langsam nach, seine Heftigkeit hatte den kleinen Gartentisch wie auch den Rasen rund um den Stamm in den Minuten ihres Nachsinnens mit einer Fülle an Lindenblüten bedeckt. Auch sie war von Kopf bis Fuß mit diesen duftenden Blättchen bedeckt. Sie strich sich durchs nasse Haar um es davon zu befreien. Da wurde sie plötzlich in jenen Moment nächster Nähe mit Simon zurückgeworfen, vor etwa 15 Jahren, knapp bevor ihr Leben die entscheidende Wendung genommen hatte, mit der sie sich bis heute nicht wirklich abzufinden vermochte. Damals an diesem Nachmittag am See war, als Simon sie nach einer ihrer Tauchgänge gerade zurück ans Ufer gerudert hatte, unvermittelt ein Gewitter losgebrochen. Sie erinnerte sich nicht mehr so genau, ob sie schon das Ufer erreicht hatten oder noch einige Meter draußen am Wasser gewesen waren, jedenfalls hatten sie noch im Boot gesessen. Der Blitz, dem sofort ein Donnerschlag gefolgt war, war einige Meter von ihnen entfernt in die Wasseroberfläche eingeschlagen und hatte ihren Kahn heftig zum Schaukeln gebracht. Simon und sie waren gleichzeitig aufgesprungen und hatten einander in die Arme genommen. Nach einer kurzen Schrecksekunde hatten sie ihre Umarmung gelöst und waren einander einige Zeit lang wortlos gegenüber gestanden. Dann war der Platzregen losgebrochen. Simon war wieder einen Schritt auf sie zugegangen und hatte ihr mit beiden Händen durchs Haar gestrichen. Sie hatte sich stante pede umgedreht, war über den Bootsrand gehüpft und Richtung Zuhause losgerannt. Simon hatte noch das Boot am Steg vertäut, bevor er ihre Verfolgung aufgenommen hatte. Als er bemerkt hatte, dass sie nicht stehen bleiben hatte wollen, war er aber zu sich nachhause gelaufen. Bea versuchte sich vom Garten ins Haus zu bewegen, der Regenguss aber hatte den Rasen so durchweicht, dass sie nicht von der Stelle kam. Sie fühlte sich in diesem Moment so hilflos wie nach ihrem Sturz, der ihr Leben in den Urzustand zurückkatapultiert hatte. Laut schrie sie nach Simon. Aber heute wie damals war er nicht für sie da. Tränen der Wut liefen ihr über die Wangen und sie bereute ihre Worte von vorhin genauso wie sie damals diesen schicksalhaften Flug bereut hatte. Mit ganzer Körperkraft versuchte sie sich aus ihrer ausweglos scheinenden Lage zu befreien, sie versuchte mit der ganzen Kraft ihrer Arme die Räder ihres Stuhls in Bewegung zu setzen. Doch da war nichts zu machen. Mit einer weiteren heftigen Bewegung ihres Oberkörpers fiel sie mitsamt ihrem Rollstuhl um und kam im nassen Rasen zu liegen. Da lag sie also rücklings wie Gregor Samsa in Kafkas Verwandlung nach seinem Erwachen im Körper eines Käfers und war bewegungsunfähig. So musste sie auch diesmal ausharren, denn Hilfe war weder in Hörweite noch in Sicht. Damals am Scheitelpunkt ihres alten Lebens war sie nach diesem Paragleiterflug, der sie hoch bis zur Sonne katapultiert hatte, und der in der Bö eines bevorstehenden Gewitters mit diesem Sturz aus rund 200 Höhenmetern geendet hatte, auf einer Futterwiese zu liegen gekommen. Niemand hatte ihren Sturz bemerkt und erst in der Dämmerung des nächsten Morgens hatte Simon sie gefunden. Er hatte sich schon am Abend auf die Suche gemacht und mit seinem Auto die ganze Nacht hindurch nach ihr Ausschau gehalten. Kurze Zeit später war sie mit dem Rettungshubschrauber ins Krankenhaus gebracht und dort notoperiert worden. Dennoch konnte ihre Querschnittlähmung vom 7. Brustwirbel abwärts nicht mehr verhindert werden. Sie schrie laut nach Simon, lag da am Rasen und ihr Herz raste vor Angst, ihr Leben nun endgültig verloren zu haben. Wie damals fühlte sie das pochenden Weh in ihrer Brust und die unendlich schmerzhafte Sehnsucht nach Leben. Ein nächster Wolkenbruch kam, Blitze zuckten, Donner grollte und Bea hielt sich beide Hände vor die Augen, um nicht sehen zu müssen, was da auf sie zukam, um auch nicht sehen zu müssen, was da hinter ihr lag. Da fühlte sie sich plötzlich von zwei starken Armen gepackt und hochgehoben. Sie öffnete die Augen. Simon. Er setze sie zurück in ihren Rollstuhl. Er strich ihr mit beiden Händen durchs nasse Haar. Er trocknete mit den Daumen seiner Hände die Tränen Ihrer Verzweiflung. Dann nahm er ihren Kopf zwischen seine Hände und küsste sie. Sein Kuss schmeckte so süß wie das Seewasser ihrer Jugend.
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