Ich schreibe an Route 55, dazu höre ich den Livestream aus dem Berliner Club Else X Wilde Renate. Bis 22 h habe ich Zeit, dann möchte ich in die Grimme-Preis-gekrönte Serie Hackerville reinschauen. Ich bleibe alle drei Folgen live dran. Das Tempo ist gemächlich, dadurch ist mehr Tiefgang möglich. Die Story nichts Neues, aber es ist eben nicht nur eine Geschichte, die erzählt wird. Rumänien und Deutschland, da sind noch Rechnungen offen. Die Schauplätze gut gewählt, stimmungsvoll. Alles in einer Welt, in der persönliche Begegnung noch offiziell ermöglicht war. Nun ist sie zwar auch möglich, aber nur aus der Distanz des Anstands zu anderen, mit Hilfe virtueller Medien, zwischen denen, die unter einem Dach leben und illegal. Der Innenminister ließ uns ja vor einigen Tagen wissen, dass bei Verstößen gegen die derzeit geltenden Ausgangsbeschränkungen hart durchgegriffen und gestraft werde („Ein paar tausend Euro“). Strafandrohungen sind aus meiner Erfahrung meist das letzte Mittel, mit der die eigene Ohnmacht bewältigt werden soll. Hat die Todesstrafe jemals einen Mord verhindert? Wir erleben in diesen krisenhaften Zeiten auch die Bankrotterklärung einer Gesellschaft, die un-gebildet, ge- und verführt nicht weiß, was sinn-voll und not-wendig ist. Daher muss hier mit martialischen Mitteln das Nötige erzwungen werden, was zum Scheitern verurteilt sein wird. Wenn ein Mensch sich nicht mehr spürt, hat er kein Gespür mehr für das, was angezeigt ist. Was hat unser sogenanntes „Bildungssystem“ nur aus uns für Menschen gemacht?
Wo ist nur unser Gewissen, unsere Seins-Gewissheit geblieben? Viktor Frankl hat darüber wie folgt sinniert: „In Euch wohnt ein ‚Sinn-Organ’ namens Gewissen! Säubert es vom Gestrüpp sämtlicher Fremdeinfl&u! uml;sse und Indoktrinationen und lauscht ihm in Ruhe, Einsamkeit und absoluter Ehrlichkeit! Es wird Euch, einem inneren Navigationsgerät gleich, stets die Richtung weisen. Die eine, die gerade jetzt und exakt für Euch stimmig ist. Es lässt Euch nicht im Stich. Folgt Eurem Gewissen und blickt mutig in die Zukunft! Die Welt ist nicht heil, aber heil-bar. Sie braucht Euch, sie wartet auf Euch und Euer Engagement. Sie ist die Spielwiese und zugleich der Prüfstein des menschlichen Geistes ...“ Ich schlafe unruhig und traumreich. Der Tag danach bringt viel Alltägliches, aber das ist auch ein gutes Zeichen für den Einzug der „Normalität“ in einer Zeit der Turbulenzen und Unsicherheit. Da die Zukunft völlig offen ist, haben wir grob gesagt zwei Möglichkeiten: die Angst und die Verzweiflung oder das bedingungslose Leben im Augenblick, aus dem die neue Zukunft entsteht, der wir uns erst gewiss werden, wenn sie sich im gegenwärtigen Moment verwirklicht. Eine dieser Alltäglichkeiten sind SMS-Nachrichten vom Vater unserer beiden Ältesten, die meine Liebste regelmäßig erhält. Tenor: Er macht sich Sorgen, ob es seinen Söhnen gut gehe. Und das, obwohl er doch täglich mit Ihnen via Chat und Telefon in Kontakt ist. Nun kenne ich Sorgen dieser Art sehr gut, ich musste sie viele Jahrzehnte bis ins Erwachsenendasein hinein erleben. Sie machen unfrei. Sie bewirken Abhängigkeit und das Gegenteil von dem, was möglicherweise sogar gut gemeint ist. Wir können vor allem den Ältesten aus dieser Verstrickung nicht befreien, er hat seit Jahr und Tag therapeutische Unterstützung (wie der Jüngere übrigens auch), wir halten regelmäßig begleitete Familienkonferenzen und dennoch wirkt diese „große Sorge“ massiv in das Leben der beiden und damit auch in unseren Familienalltag hinein. Der Befreiungswunsch der beiden ist sonnenklar: Auf zum Vater nach Berlin. Dann muss er sich keine Sorgen mehr machen. Und: Die beiden wissen, dass wir uns solche Sorgen wie ihr Vater um sie nicht machen würden. Doch Berlin ist nicht die Lösung. Denn Berlin gibt keine Garantie, dass die väterliche „Sorge“ dann ein Ende hätte.
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Route 55
Dieser Blog begleitet mich durch mein 55. Lebensjahr, das ich mit einer Feier im Freundeskreis am Vorabend meines Geburtstages eingeläutet habe, das am 23.2.20 um 19.21 h tatsächlich begonnen hat und das sogar 366 Tage zu bieten hat, also mehr als viele andere meiner bisherigen Lebensjahre. Archiv
Februar 2021
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