Drei Viertel des Wegs auf meiner Route 55 sind vergangen und es war – wie eigentlich jedes Lebensjahr – eine wild bewegte Zeit. Verstärkt wird der Effekt der Rückschau auf 54 Lebensjahre durch die aktuelle Situation, die uns und damit auch mich in einem Höllentempo in eine Lage gebracht hat, die noch vor wenigen Monate niemand für möglich gehalten hätte. Wir erleben gerade den Beginn einer von der deutschen Schriftstellerin und Verfassungsrichterin Julie Zeh in Ihrem Roman „Corpus Delicti“ im Jahr 2009 für die Mitte des 21. Jahrhunderts fantasierten Gesundheitsdiktatur. Wichtigstes Merkmal: Die Gesellschaft muss vor Krankheiten geschützt werden, jeder Einzelne daher die Maßnahmen der Regierung bei sonstiger Exekution (im Buch durch Einfrieren) auf Punkt und Beistrich umsetzen- zum Schutz der Gemeinschaft natürlich. Konformität statt Individualität sowie
In den letzten Wochen hatte ich mich intensiv mit den aktuellen Umständen beschäftigt, hatte versucht, mir ein Gesamtbild zu machen, an alle nötigen Informationen zu kommen, um eine Basis zu haben, eigenständige Entscheidungen für mich und gemeinsam mit der Familie zu treffen, hatte mir die Positionen der verschiedenen Lager reingezogen, um mit der Rückführung sämtlicher Sichtweisen auf das eine unausweichliche Fixum im Leben, nämlich den Tod, und unsere kollektive Angst davor zu gegenseitigem Respekt beizutragen – und war damit fürs Erste gescheitert und persönlich sehr, sehr erschöpft und voller Panik. Ich zog daher die Notbremse und setzte mich auf C-Diät – und die Wirkung entfaltete sich nach und nach. Ich war nicht mehr außer mir, ich schaffte es Schritt für Schritt wieder zu mir zu kommen. Was mir in diesen Tagen sehr gut half, war eine intensive Auseinandersetzung mit Sterblichkeit, Endlichkeit und Tod im Rahmen meines Blogs „Morituri T. Salutant“. Ebenso beschloss ich, mich täglich eine Stunde in die Natur zu begeben, nahm eine liebe Gewohnheit aus meiner Anfangszeit vor 3 Jahren hier am Lande auf und machte mich alleine oder in Begleitung meiner Liebsten und unseres Jüngsten daran, tatsächlich Schritte zu gehen. Das Rad blieb in der Hofeinfahrt, um das Erleben intensiver zu machen. Die Gedanken verloren sich auf Schritt und Tritt und die Wahrnehmung eines Einklangs mit allem trat an deren Stelle. Am Wochenende gönnte ich mit danach eine gute Bio-Speckjause mit einer Flasche dunklem Bier, ein wunder-volles Erlebnis. Auch der Garten wurde vor den ersten Frostnächten noch winterfit gemacht, die Rosen geschnitten und das Wasser abgedreht. Auf meinem Schreibtisch steht seit kurzem meine von einem guten Freund meines Vaters geerbte NIKON Analog-Kamera mit einem tollen Zoom-Objektiv (28-400). Eine für den halbautomatischen Betrieb notwendige Batterie habe ich bei einem österreichischen Online-Elektronik-Händler bestellt, das Produkt ist seit Freitag mittels Paketdienst aus Bremen (!) unterwegs. Es gibt wohl immer noch einen Haken, wenn man nachhaltig und ressourcenschonend einkaufen will. Dennoch freue ich mich auf die ersten Fotos, drei 36er-S/W-Filme warten darauf, Aufnahmen zu sammeln. Einen Händler für die Entwicklung zu finden, wird wohl auch noch die eine oder andere Herausforderung bringen, mein Ziel ist es, wenn ich tatsächlich am S/W-Fotografieren dran bleibe, mir die Ausstattung zu organisieren, die ich benötige, um diesen Schritt zukünftig selbst machen zu können. An den Abenden beschäftigte ich mich mit der ARTE-Miniserie „Kampf um den Halbmond“ (der Originaltitel „No Man’s Land“ gefällt mir wesentlich besser). Der Krieg in Syrien im Jahr 2014 und die Schicksale von Franzosen und Einheimischen ist Inhalt der acht 45-minütigen Folgen. Bewegend und bedrückend die geschilderten Ereignisse, die Menschen wie dich und mich in den Strudel der sinnlosen Auseinandersetzungen ziehen und auch eine Darstellung nicht nur der Schrecken sondern auch der Faszination des Kampfes für eine Ideologie, die einen zu tiefst betroffen macht. Am Samstag während des Putztages richtete ich meinen Bereich neu ein, um ihm mehr Gemütlichkeit und Abgeschiedenheit zu den sonstigen Familienaktivitäten zu geben. Dabei aktivierte ich auch die Stereoanlage, die nun viele Monate lang im Donröschenschlaf gelegen hatte und gab mir zuerst Ludwig Hirschs „Gottlieb“, einen Liveauftritt aus dem Volkstheater (die CD hatte ich irgendwann verschenkt und nun antiquarisch wieder erworben), brach dieses Vorhaben aber bald wieder ab, da es depressionsfördernd wirkte, was in Zeiten wie diesen kontraproduktiv ist. Ich fand bei der Suche nach einem Buch von Ivan Illich („Entschulung der Gesellschaft“) noch andere, längst in Vergessenheit geratene Bücher meine Lebens, so Harvey Cox’ „Das Fest der Narren“, das einzige Buch, dass ich mir (von meinem Religionspädagogik-Professor in meinem Lehramtsstudium für meine Diplomprüfung) geborgt und niemals zurück gegeben habe (ich plane derzeit schuldbewusst eine Rückgabe und eine antiquarische Bestellung des Werkes), Ivan Illichs „In den Flüssen nördlich der Zukunft“ (mit einem tiefgreifenden Einblick in die Mühlen eines missratenen Gesundheitssystems), Gombrichs „Eine kurze Weltgeschichte für junge Leser“ und Willigis Jägers „Kontemplation“. Sonntags erreichte mich eine E-Mail meines ehemaligen homöopathischen Arztes aus der Wiener Zeit mit erbaulichem Inhalt. Seine die allgemeine Panik dämpfende, sachlich fundierte Analyse der aktuellen Situation und die daraus resultierenden Schlussfolgerungen und nötigen Handlungen stellen eine gute Grundlage für weitere Recherchen und Aktionen für mich und meine Familie dar. Eine Sauna eröffnete die neue Woche und leitete den ersten „My-day“ ein, an dem ich mich ausschließlich dem Meinen widme und für die Meinen out of service bin.
0 Comments
Your comment will be posted after it is approved.
Leave a Reply. |
Route 55
Dieser Blog begleitet mich durch mein 55. Lebensjahr, das ich mit einer Feier im Freundeskreis am Vorabend meines Geburtstages eingeläutet habe, das am 23.2.20 um 19.21 h tatsächlich begonnen hat und das sogar 366 Tage zu bieten hat, also mehr als viele andere meiner bisherigen Lebensjahre. Archiv
Februar 2021
|