Auf der Fahrt in die Hauptstadt sitze ich im Zug, höre Stefanie Wergers „Zügellos und frei“ und blicke zurück auf eine Woche, die sich wie ein Jahr anfühlt. Voll mit Ereignissen, vor allem im Inneren, hat sie mich zu meinem Schmerz gebracht, der mein Leben mehr bestimmt als mir lieb ist. Und dennoch – so weiß ich – ist dies der Weg, um tatsächlich frei zu sein. Das Reflektieren und „Behirnen“ ist letztlich auch nicht mehr als ein Davonlaufen und Schmerzvermeidung. Aber der Reihe nach.
Am Abend des Tages, an dem mein Jüngster seine Externistenprüfung so erfolgreich bestanden hatte, ging es noch zu einer Besprechung des Vorstandes unseres Dorf-Fußballklubs. Die Unsicherheit bezüglich der Zunkunft des Amateurfußballs hatte sich noch nicht gelegt, dennoch war es gelungen, fast alle Spieler zu halten und für die zwei Abgänge gute Nachbesetzungen zu finden. Der nächste Vormittag führte meinen Jüngsten und mich endlich wieder in die Stadtbücherei, es war einfach herrlich in den Regalen mit Büchern, CDs, Kassetten und DVDs zu „baden“ und eine gehörige Portion davon mit nachhause nehmen zu können. Beim Mittagsschlaf auf dem roten Outdoorsofa wich Kater Dario nicht von meiner Seite. Er schnurrte mich in einen angenehmen Powernap, aus dem ich erholt erwachte. Nachmittags dann kam Bewegung in die Dach-Geschichte. Unsere Vermieterin begutachtete die Situation gemeinsam mit ihrem Gatten, es wurde vereinbart, dass innerhalb von drei Wochen mit der Sanierung von Dachstuhl und Dach begonnen werden sollte. Der Donnerstag-Feiertag war dann zum zweiten Mal innerhalb von zwei Wochen dem Hendlgrillen beim örtlichen Fußballverein gewidmet. Wieder hatten jede Menge Menschen das Angebot angenommen. In Begleitung meines Jüngsten managte ich die Getränkeausgabe, am Ende wurden wir mit einem halben Grillhuhn belohnt, das wir uns teilten. Es schmeckte ob seiner Würzung vorzüglich, obwohl ich zugeben muss, dass ich eigentlich gar keine Lust drauf hatte, diesen Vogel aus Massentierhaltung zu mir zu nehmen. Abends fiel ich nach dem zweiten Teil des Amsterdam-Krimis auf ARD erschöpft schon um zehn ins Bett, ich erwachte morgens dafür schon sehr früh. Um sechs war ich bereits im Garten, um den Sonnenaufgang zu genießen. Kater Dario hatte sich zu mir gesellt und begehrte, auf den Arm genommen und gekuschelt zu werden – ein sehr harmonischer Morgen. Kurze Zeit später erklomm der Kater hinter meinem Rücken den alten und weit verzweigten Weinstock, um es sich am im ersten Stock der Nachbarwohnung befindlichen Fensterbrett bequem zu machen, er wollte den von ihm so geschätzten Vögeln näher kommen, wie wohl er schon mehrmals erfahren hatte, dass wir da ganz anderer Meinung waren. In den Wochen seines Hierseins und Aufwachsens hatte er beeindruckende Kletterkünste entwickelt. Angesichts der beim Nachbarn immer gekippten Fenster, überlegte ich mir eine Maßnahme, die das Erklimmen des Weinstockes erschweren bzw. verunmöglichen sollten. Noch vor dem Frühstück brachte ich auf halber Höhe ein Gitter an, so dass unser Kater nur noch bis unterhalb der Fensterbank klettern konnte. Neugierig wie er nun einmal ist, versuchte er kurze Zeit später sein Glück und musste trotz zahlreicher Versuche, die Barriere zu überwinden, erkennen, dass es nicht möglich war, zur Fensterbank im Obergeschoss vorzudringen. Für mich waren diese Minuten, in denen ich ihn nicht aus den Augen ließ, auch der beste Beweis, dass meine Maßnahmen die gewünschte Wirkung erzielten. Erschöpft von seinen Bemühungen ruhte er sich noch kurz am Weinstock aus, ehe er rücklings wieder abwärts kletterte. Am Nachmittag war ich zu meiner jüngeren Tochter in ihr Domizil eingeladen, ich hatte angeboten, die Rechtschreibung jener Texte, die sie für ihre neue Homepage geschrieben hatte, durchzugehen und dabei auch gleich ihr Haus im Weinviertel zu bestaunen. Mein Jüngster wollte sich diese Chance nicht entgehen lassen, seine Halbschwester wieder zu sehen und das Pool im Garten kennen zu lernen, das er im Sommer dann schwimmend zu erkunden gedachte. Die Strecke, die mit dem Auto in 45 Minuten zu bewältige war, kostete uns mit den Öffis rund 2 Stunden, auch weil wir in Stockerau 45 Minuten auf den Busanschluss warten mussten. Die Wartezeit nutzte mein Sohn dafür, sein Taschengeld im örtlichen Supermarkt auszugeben. Im Bus waren wir die einzigen Fahrgäste, worauf sich mir wieder die Frage stellte, ob es keinen Bedarf gäbe oder ob es aufgrund des zu geringen Angebots alle Anwohner ein eigenes Auto oder eine PKW-Mitfahrgelegenheit nutzten. Das wird sicher auch die größte Herausforderung eines zukünftigen Pushens der öffentlichen Verkehrs (wie etwa durch das geplante 1,2,3-Ticket) sein, Angebot und Infrastruktur so aufzustellen, dass sie von möglichst vielen Menschen genutzt werden können. Während meine Tochter und ich uns intensiv in ihre Homepage und das eine oder andere Gespräch über unsere Leben vertieften, saß mein Sohn auf der Terrasse ihres Hauses und nutzte die Zeit, seine vom Taschengeld angeschafften Neuerwerbungen zu lesen bzw. auszuprobieren. Dann gab er sich noch das eine oder andere Filmchen am Handy. Zuletzt aßen wir noch Kuchen, bewunderten die beiden Kater meiner Tochter und wurden nochmals für den Sommer zum Schwimmen für den dann gefüllten Pool eingeladen. Wir versprachen wiederzukommen und das in erweiterter Familienbesetzung. Unser Abendessen nahmen wir dann während der erneuten Wartezeit in Stockerau ein. Wir kamen gerade rechtzeitig heim, um das Freitagsspiel der Deutschen Bundesliga anschauen zu können. Danach fielen wir erschöpft in unsere Betten. Der darauffolgende Samstag diente dem Putzen und den wöchentlichen Großeinkäufen. Nachmittags stand das erneut Fußball, diesmal die österr. Bundesliga am Programm. Bei mir und meinem Jüngsten bemerkte ich leichte Verschleißerscheinungen wegen des vor kurzem zu Ende gegangenen Prüfungsstresses. Es lag eine gewisse gereizte Stimmung in der Luft und ich verspürte den Anflug einer Erschöpfungsdepression, die sich meiner schon öfter in meinem Leben – und zwar immer nach dem erfolgreichen Abschluss einer länger andauernden Aufgabe – bemächtigt hatte. Ich fühlte mich damit gar nicht wohl, waren doch in den nächsten Tagen und Wochen noch andere Herausforderungen zu bewältigen, die jede Menge Kraft brauchten. Für einen Hänger oder eine Pause schien jetzt wirklich keine Zeit zu sein. Am nächsten Tag dann, einem Sonntag, eskalierte die Angelegenheit insofern, als mein Jüngster beim gemeinsamen Schauen des Bundesligamatches zwischen WAC und Rapid (dessen Fan er ist) wegen der schlechten Leistung seines Lieblingsklubs bei einer weiteren vergebenen Chance die Nerven verlor und einen leeren Weinkarton, den ich für unseren Kater zum Spielen auf dem Boden platziert hatte, auf Kater Dario kickte. Daraufhin schickte ich ihn in sein Zimmer zur Beruhigung, genervter und schärfer als üblich. Im darauf folgenden Konflikt, den auch das 2:1 für Rapid nicht entschärfte, fühlte ich mich überfordert. Ich verspürte mit einem Mal den innigen Wunsch nach einer Auszeit, nach einer Zeit, die mir ermöglichte, das zu tun, worauf ich Lust hatte und nicht von einer Verpflichtung in die nächste zu torkeln. Dieses Bedürfnis äußerte ich auch gegenüber meine Frau heftig und mit Nachdruck – und stieß sie damit völlig vor den Kopf. Eine Lösung schien noch weiter entfernt als kurz vorher, zumal mir im Streitgespräch mit ihr einfach alles einfiel, was mir nicht passte. Da auf diese Weise keine Lösung zu erreichen war, nahm ich mir eine Auszeit und fuhr mit dem Fahrrad zum Heurigen, um – wie geplant – Traubensaft zu kaufen. Dort traf ich auf Bekannte, einer von ihnen lud mich auf einen G‘spritzten ein. Auf mehr hatte ich aber absolut keine Lust. Ich plauderte Belangloses, kippte den Spritzwein schnellstmöglich runter, zahlte den Traubensaft und dampfte wieder ab. Die Nacht verlief denkbar schlecht, die Spannung schnürte mir den Atem, mein Gefühl des „Einfach-Raus“ wurde stärker und stärker. Ich nahm mir also den nächsten Vormittag frei, schlief lang, frühstückte nicht, bestellte bei meiner Frau das gemeinsame Mittagessen ab und setzte mich auf mein Fahrrad. Ziellos fuhr ich los, um schließlich im Großmarkt und im Einkaufszentrum der Bezirkshauptstadt zu landen. Beim ersten kaufte ich im Angebot 5 Kilogramm einheimischer Erdbeeren und Gelierzucker, weil ich Lust hatte, die Jahresration an Erdbeermarmelade herzustellen. Im anderen erwarb ich Zigarettentabak, eine Vakuum-Tabakdose und einen Stein, der mit Wasser getränkt und zum Tabak gelegt, diesen feucht halten sollte, da ich ja – wie schon geschrieben – Genussraucher bin. Für meinen Jüngsten erwarb ich drei Hefte, die ihm dabei helfen sollten, seinen Vorsatz das Schönschreiben zum schulischen Jahresthema zu machen, gut umsetzen zu können. Ich kaufte mir auch noch einen kleinen Mittagsimbiss und einen Sommerhut. Es tat so gut, sich dem zu widmen, was mir wichtig war. Auf der Heimfahrt konnte der Gepäckträger meine Fahrrads das ihm auferlegte Gewicht der Einkaufstasche nicht halten und ließ bei einer Bodenwelle alles auf die Erde plumpsen. Ich klaubte Erdbeeren und die anderen Einkäufe die bunt gemischt auf der Straße lagen geduldig wieder auf und legte den weiteren Weg zu Fuß und mein Fahrrad schiebend zurück. Zuhause angekommen machte ich mich umgehend ans Marmelademachen und zwei Stunden später war alles in die dafür vorbereiteten Gläser gefüllt. Und weiter ging‘s zum Fußballtraining, das ich lieber ausfallen hätte lassen, was ich aber aus Pflichtgefühl nicht tat. Die Stimmung zwischen meinem Jüngsten und mir war noch angespannt, während des Trainings aber lockerte sich diese zusehends und wir fuhren guter Laune nachhause. Abends hatte ich dann noch die Jugendtrainerbesprechung im Fußballverein, der ich abwesender als sonst beiwohnte, weil ich mich immer noch nach Ruhe und Eigenzeit sehnte. Die nahm ich mir dann danach, in dem ich bis spätnachts Teil 3 und 4 des ZDF-Mehrteilers Mirage anschaute. Müde und erschöpft machte ich mich am nächsten Tag an die Gestaltung der letzten Ausgabe meiner Sendereihe „Nie-mehr-Schule“ auf Radio Orange. Die mehr als fünf Jahre, in denen ich dieses Magazin für alle, die Bildung verändern wollen, gestaltet hatte, haben mich in eine neue Bewusstseinsstufe bezüglich Bildung von (jungen) Menschen gebracht, Ich hatte viele Menschen kennenlernen dürfen, die mir einen neuen, differenzierten Blick auf das Thema geschenkt hatten und die mir letztlich jenen Impuls gegeben haben, der nun zum Ende meiner Radioshow führten. Ich will von nun an selber anpacken und nicht bloß darüber berichten. Dazu ein anderes Mal mehr. Für den Abend war ich zum jährlichen Open Space im Radio angemeldet, sagte aber aufgrund meiner aktuellen Situation und des dringenden Bedürfnisses nach Zeit mit mir selbst dann – schweren Herzens zwar – ab. Zudem hatte meine Frau den nächsten politischen Termin, nämlich Gemeindevorstandssitzung und unsere Jungs waren noch keineswegs auf diese Herausforderung, sich nämlich öfter mal selbst zu versorgen, vorbereitet. Auch das musste sich dringend ändern. Der Abend war dann doch eher wieder Sohn Nr. 3 gewidmet als mir selbst, aber auch er war durch die Ereignisse vom vergangenen Sonntag noch unrund. Angesichts eines am nächsten Tag bevorstehenden Zahnarzttermins schlief ich unruhig. Eine mir erst vor wenigen Wochen „verabreichte“ Plombe hatte sich vor wenigen Tagen in mehreren Etappen verabschiedet. Ich machte mir schlimme Gedanken, musste der Zahn womöglich wurzelbehandelt oder vielleicht sogar ganz entfernt werden? Nach dem Erwachen fühlte ich mich gerädert, machte mich nach einem kleinen Frühstück sorgenvoll auf den Weg zu meiner Zahndoktorin, die ich trotz ihrer Jugend bislang als äußerst kompetent erlebt hatte, im Gesundheitszentrum der Bezirkshauptstadt. Ich kam pünktlich an die Reihe, sagte ihr, wo der Schuh drückt und innerhalb von sieben Minuten war ich „geheilt“ wieder entlassen, so dass ich am Bahnhof den direkten Retourzug erreichte und die Meinen damit überraschte, dass ich eine Stunde früher als geplant zuhause war. Nachmittags dann ein weiteres Training mit meinem U9-Fußballteam, glücklicherweise war mein Co-Trainer anwesend und so konnte ich der stressigen Situation entkommen, dass ich gleich nach Trainingsende einen Onlinekurs zu geben hatte, den zweiten Teil meines Sprachförderungsworkshops für elementarpädagogische Fachkräfte, der kurz nach dem Shutdown hätte stattfinden sollen und der dann abgesagt bzw. verschoben wurde. Es war eine wunderbare Zusammenarbeit mit diesem fußballerfahrenen Mann, der sich einerseits sehr gut auf mich, andererseits ebenso gut auf die Jungs einstellen kann. So konnte ich ihm beruhigt die letzte Trainingsviertelstunde alleine überlassen und rechtzeitig zum Onlinemeeting zuhause am Laptop sitzen. Die Woche ging trotz ihrer Fülle wie im Wirbelwind vorbei – und der geplante Rückzug zu mir selbst fand einmal mehr nicht statt. Dennoch ließ sich der Schmerz meiner Ur-Wunde – wie ich sie nenne – nicht länger unterdrücken, er schwappte in verschiedenen Momenten, die ich hier nicht näher beschrieben habe, immer wieder hoch. Nur in der direkten Konfrontation mit ihm, liegt die Chance auf seine Heilung - oder sagen wir besser Integration. Mal sehen.
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Route 55
Dieser Blog begleitet mich durch mein 55. Lebensjahr, das ich mit einer Feier im Freundeskreis am Vorabend meines Geburtstages eingeläutet habe, das am 23.2.20 um 19.21 h tatsächlich begonnen hat und das sogar 366 Tage zu bieten hat, also mehr als viele andere meiner bisherigen Lebensjahre. Archiv
Februar 2021
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