Wie ich an anderer Stelle in meinem Tagebuch bereits bekannt habe, bin ich ein Freund des Musicals. Das gilt zwar nicht generell, aber jedenfalls für die Klassiker. Nichts halte ich hingegen von den als Musicals verkauften Musikshows, in denen Popsongs - seien sie von Abba oder Udo Jürgens - in einen wenig inspirierenden Plot gepackt werden. Sei's drum.
Meine Frau Reetta durfte jedenfalls das eine oder andere Mal bereits mit dem von ihr eher gering geschätzten Genre Bekanntschaft schließen - und sie tat es jedesmal bereitwillig, um nachher zwar nicht eines Besseren belehrt aber doch, sagen wir, angenehm überrascht zu sein. Dieser Tage gab es auf Servus TV die Verfilmung des Andrew-Lloyd-Webber-Dauerbrenners zu sehen. Und wir waren via meines E-Books live dabei. Mit den Werbepausen haben wir uns insofern arrangiert, als wir sie zum Gespräch und zur Reflexion des Gesehenen nützen. Und da gab es diesmal jede Menge Stoff. Das Musiktheaterstück hatte ich vor Jahrzehnten in seiner deutschen Erstfassung im Theater an der Wien mit Alexander Goebel und Luzia Nistler in den Hauptrollen gesehen. Mich beeindruckte damals die Bühnenshow und der eine oder andere Song, mich befremdete die Liebe zwischen Christine Daae und dem Phantom. Die Damen im Publikum aber fühlten offenbar ähnlich wie Christine, denn bei Auftritten des Phantoms waren sie schrecklich hingerissen. Diese Mischung aus Furcht und Verehrung ließ mich ein wenig ratlos zurück - und dennoch schien sie meiner Seele möglich. Damals war mir so vieles aus meiner eigenen Geschichte noch nicht bewusst, das genau dieses Verhalten hervorrufen kann. Es dauerte noch etwas mehr als zwanzig Jahre, um der Sache auf den Grund zu gehen und mein Gebaren nach und nach zu ändern. So wurde mir beim neuerlichen Ansehen des Musicals mit meiner Frau Reetta bewusst, dass es sich beim Phantom um nichts anderes als einen Psychopathen handelt. Solchen bin ich im Lauf meines Lebens des öfteren begegnet und versuchte sie - wie mir anerzogen war - zu retten. Da hatte ich die Christine in mir! Und ich erkannte auch das "phantomare" Gehabe, das mich von Zeit zu Zeit befällt, am Vorbild gelernt ist gelernt. Und ich nahm den Raoul in mir wahr, der jene zu retten versucht, die in die Fänge eines solchen Psychopathen geraten sind. Betroffen und bewegt lauschten Reetta und ich der Handlung - und erkannten so vieles wieder, was unsere Leben schwer gemacht hatte und auch heute noch bedrückt. Die Schlussszene des Films am Grab von Christine Daae zeigte diese Schatten der Vergangenheit, die Gegenwart und Zukunft beeinträchtigen grandios: Als der greise Raoul dort einen Blumenstrauß niederlegen will, erkennt er, dass dort bereist eine rote Rose mit einem schwarzen Band und dem Verlobungsring, den das Phantom der Oper Christine verehrt hat, liegt. Obwohl die Verstorbene noch zu Lebzeiten Schluss mit dem Psychopathen gemacht hat, kennt der auf diese Weise Grenzenlose keine Gnade und bestätigt die im Song "Wie steht mir der Sinn" gesungenen Verse eindrucksvoll: "So lang er lebt, folgt er uns bis in den Tod!" Ich weiß nicht, was Gaston Leroux, den Autor des dem Musical zugrunde liegenden Buches bewegt hat, ich kenne auch die Motive von Andrew Lloyd Webber nicht, sich dieses Stoffes anzunehmen. Klar aber ist für mich, dass der Plot wie ein Loblied auf die Psychopathen klingt, denen es immer eindrucksvoll gelingt sich von Tätern zu Opfern hochzustilisieren und die aus ihren Opfern mit Leichtigkeit Täter werden lassen. Sie sitzen an allen Ecken und Enden der Gesellschaft, im Kleinen wie im Großen - und sie sind so gefährlich, weil sie ihr eigentliches Wesen hinter einer genialen Maske verstecken. Der, der sie entlarvt, gerät nach deren Demaskierung in akute Lebensgefahr, nicht selten bezahlt er diese Aufdeckung tatsächlich mit seinem Leben. Einmal habe ich von einer weisen Frau den Tipp bekommen, dass Psychopathen nur mit ihren eigenen Waffen, nie aber mit Liebe und Verständnis zu schlagen sind. Dieser Scharfsinn bewegte mich sofort, er entlastete einerseits und überforderte mich andererseits. Ich musste ganz böse werden, also alles aufbieten, was ich zum Teil noch nicht drauf hatte, um einen solchen Menschen in meinem Leben loszuwerden. Und die Frage bleibt dennoch, wie lange und wie weit dieses Loswerden reicht ...
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Hinweis:
Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Seither habe ich sie auf dieser Seite in meine Tagebucheinträge integriert.
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Juli 2019
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