Als empathisches Wesen, der schnell mit einem Gegenüber oder einer Stimmung in Resonanz geht ist die Heimfahrt in den ersten Stunden meines neuen Lebenstag eine Hochschaubahn der Gefühle. Daher habe ich in den letzten Tagen auch das Radiohören und Nachrichtenstreams-Schauen auf das Notwendigste reduziert, denn Sorgen und Ängste schwächen ja bekanntlich nicht nur die Psyche, sondern auch das Immunsystem. Es liegt etwas in der Luft, es ähnelt ein wenig der Gefühlslage knapp vor Weihnachten, einer Zeit, in der sich auch eine Menge Emotion zusammenballt und manchem das Leben schwer macht. Das frühlingshafte Wetter und die Corona-Lage – ein Paradoxon, das den Fühlenden zu schaffen macht.
Bei meiner Heimreise hatte ich im Personentunnel meines Umsteigebahnhofs in der Landeshauptstadt eine plötzliche Geruchsassoziation. Gerüche sind ja generell etwas sehr eindrückliches, ich erlebe das jedenfalls immer wieder sehr intensiv. Darum hatte ich in meinem Jahrzehnt als Lehrer in öffentlichen Pflichtschulen in Wien häufig mit dem klassischen Schulgeruch bzw. verschiedenen Schulgerüchen zu kämpfen, eine äußerst unangenehme Assoziation. In jenem Personentunnel flashte ich zu folgendem Erlebnis zurück. Schikurs in der Oberstufe, eine übermäßig besorgte Mutter daheim, die mich nicht mitfahren lassen wollte, ein Turnlehrer, der mich deswegen vor der ganzen Klasse zur Sau machte – und eine Entscheidung meinerseits mit schlechtem Gewissen, weil ich dennoch mitgefahren war. Ich wurde am 2. Tag krank, musste mich den Ängsten meiner Mutter beugen und die von ihr mitgegebenen Grippepulver schlucken (ohne dass die Lehrer etwas mitbekamen). Mein Turnlehrer hatte – als ich drei Tage später wieder einigermaßen gesund war und abschließenden „Bunten Abend“ teilnehmen konnte – auch so seine Probleme. Als er sich auf seinen Sessel setzte, sprang er sofort wieder auf und überprüfte daraufhin mit den Händen seinen Hosenboden und die Sitzfläche, so als ob er etwas Nasses wahrgenommen hätte. Armer Mensch. Wozu Schule in ihrer systemischen Gewalt in der Lage ist, zu annähernd gleichen Teilen bei Schüler*innen, Lehrer*innen und Eltern. Daher habe ich ja vor knapp fünf Jahren Bildung zu meinem Leib- und Magenthema gemacht, in dem ich unter anderem eine Sendereihe im freien Wiener Radio Orange 94.0 mit dem Titel „Nie mehr Schule – das Magazin für alle, die Bildung verändern wollen“ ins Leben gerufen habe. Dazu ein anderes Mal mehr. Nun aber zurück zur Geruchsassoziation im Bahnhofstunnel: Ich wurde also am Tag vor unserer Rückreise gesund und hatte Lust nach draußen zu gehen. Es war März, es war sonnig, der Schnee im Tal schmolz und es roch – nach Frühling, aber in einer besonderen Weise, die ich gut in Erinnerung behielt und die ich bislang nur dieses eine Mal wahrgenommen hatte – bis auf gerade eben. Dieses Gefühl mischte sich damals mit der Freude über das Genesen und mit einer durchaus fremdbestimmten Sehnen nach der Rückkehr ins Zuhause, ein ambivalentes Gefühl. Dennoch war es in jener Zeit für mich angenehmer, den Willen meiner Mutter zu befolgen als mich auf mein Wollen zu konzentrieren, die Enge der Wiener Wohnung hatte trotz meines pubertären Alters diesen Vorteil gegenüber der Freiheit der großen, weiten Welt. Und in jener Unterführung kam nicht nur der Geruch zurück, sondern auch jene Zweischneidigkeit meiner damaligen Gefühlslage, allerdings mit einer wesentlich anderen Einfärbung, nämlich frei sein zu wollen und das durch die geplanten Maßnahmen der Regierung mögliche „Eingesperrt-Sein“ im eigenen – diesmal ja wunderbaren Zuhause – als unzumutbare Zumutung zu empfinden. Endlich im Haus wurde ich von Kater Dario empfangen. Kuschelzeit extra intensiv. Ich wachte noch bis gegen 2 Uhr – und rollte mich schon vier Stunden später wieder aus den Federn. Catmania – und die Sorge eines der jungen Familienmitglieder könnte die Terrassen oder Haustüre offen lassen und dem Kater zu früh den Weg in seine Freiheit als potentielle Freilaufkatze ermöglichen. Ich frühstückte und setzte mich an den Schreibtisch, unterbrach meine Arbeit nur, um den neuen Mitbewohner zu beobachten bzw. seine Bedürfnisse kennenzulernen. Um neun legte ich mich noch für eine Stunde hin, um elf fuhren mein Jüngster und ich in die Stadtbücherei, um uns für die „Quarantäne“ der nächsten Tage literarisch aufzumunitionieren. Dieser Begriff drückt auch eine meiner extremen Gefühle aus: Wir sind im Krieg. Zwei Beiträge, die ich online fand, besänftigten meine übertriebenen Wahrnehmungen: Im Magazin Geo wurde beschrieben, warum bei Corona funktioniert, was bei der Klimakrise versagt und Zukunftsforscher Mathias Horx lehrte mich das Virus und seine Auswirkungen als Resizlienz-Übung mit positivem Effekt zu verstehen. Bevor wir in die Bibliothek kamen, wollte mein Sohn noch zum Friseur am Bahnhofsplatz, was eine gute Idee war, denn seine Kurzhaarfrisur war schon vor Tagen außer Form geraten. Während er wartete, holte ich noch eine 6kg-Dose mit Bio-Olivenöl von einem Bekannten ab, dessen Tauschkreiskollegin es schon vor Wochen aus ihrem Griechenlandaufenthalt mitgebracht hatte. Eine Ration, die wohl wie die vorjährige ein Jahr halten sollte. Zurück im Friseurladen mussten wir doch noch eine halbe Stunde warten und so geriet unser Zeitplan letztlich mit einer Stunde ins Hintertreffen – und unser Mittagessen fand erst gegen zwei statt. Die Mittagspause dauerte dann länger als gedacht, beschloss Dario doch, sich auf meine Oberschenkel zu legen und dort für knapp zwei Stunden tief und fest einzupennen. Ich genoss die erzwungene Pause und regenerierte mich auf diese Weise von den beiden vorhergehenden und zu kurz geratenen Nächten. Und so ging der nächste Lebenstag mit einem gemeinsamen Familienabendessen zu Ende, das gleichzeitig ein Auftakt in eine auf unbestimmte Zeit angelegte Phase des gemeinsamen Alltags in unserem Haus und Garten bildete. In dem Moment wurde mir bewusst, was es bedeuten würde, wenn ein atomarer Unfall uns auch das Nach-Draußen-Gehen verunmöglichen würde. Im Relativieren liegt manchmal ein Segen, obwohl ich es mir als Lebensphilosophie nicht aneignen möchte, hat es doch meine Kindheit und Jugend extrem geprägt.
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Route 55
Dieser Blog begleitet mich durch mein 55. Lebensjahr, das ich mit einer Feier im Freundeskreis am Vorabend meines Geburtstages eingeläutet habe, das am 23.2.20 um 19.21 h tatsächlich begonnen hat und das sogar 366 Tage zu bieten hat, also mehr als viele andere meiner bisherigen Lebensjahre. Archiv
Februar 2021
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