M. A. Karjalainen
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LOGBUCH

"Auf dem Grunde der Dinge ist alles Phantasie." Alfred Kubin

In meinem Logbuch berichte ich von meinen inneren und äußeren Reisen in der Realität & Virtualität meines Lebens.

Das Logbuch ist die Weiterentwicklung meines Schreibens vom Äußeren zum Inneren und umgekehrt, es ist Ausdruck einer zeitlosen Aktualität, aber auch einer ewig aktuellen Zeitlosigkeit.
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Log #3: Vom Ende einer Reise

3/12/2019

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Und wenn du frei und ohne Angst, ganz nah am Wegesende bist
Dein Herz ganz leicht geworden ist
Dann geh, ohne dich umzusehen
Eh meine Last dich niederdrückt, eh meine Schwere dich noch hält
Wenn du es willst, wenn's dir gefällt
Lass' ich dich los, lass' ich dich gehen
(Reinhard Mey, „Nein, ich lass dich nicht allein“)

Er weiß, dass seine Reise hier zu Ende gehen wird …
(Reinhard Mey, Lilienthals Traum)

Neulich saß ich wieder einmal an einem meiner Umsteigebahnhöfe, wartete auf den wieder einmal verspäteten Zug und wurde wieder einmal von einem meiner anonymen Reisegefährten angesprochen. Der kam aber ohne Vorrede mit folgenden Worten gleich zu Sache: „Glauben Sie an den ansatzlosen Selbstmord?“

Ich blickte ihn völlig überrascht an und mir verging augenblicklich die Lust, auf die von ihm angebahnte Unterhaltung einzusteigen. Nachdem ich auch noch einen Blick in seine müden graublauen Augen gewagt hatte, schaute ich verlegen auf meine Uhr, dann auf die Anzeige. Noch mindestens acht Minuten musste ich demnach warten, bevor mich der Zug aus dieser Situation retten konnte. Aber war ich überhaupt noch zu retten? Hatte mich jener Mann um die 50 – obwohl er möglicherweise älter wirkte als er tatsächlich war – nicht gerade zum Komplizen seines geplanten Freitodes gemacht? Musste ich nicht eingreifen? Musste ich nicht wenigstens seine Geschichte anhören? Ich zögerte noch einen Augenblick, rang um Worte und fand letztlich jene: „Nö, ansatzlos kann ein Selbstmord gar nicht sein, weil es ja die Entscheidung braucht, um diesen Schritt zu tun. Und das ist doch ein Ansatz.“

Mein Gegenüber lächelte. „Ja, das ist ein Ansatz“, meinte auch er, gab aber seine Theorie noch nicht auf.

„Wissen Sie, was ich überhaupt meine?“, insistierte er, und ohne auf meine Antwort zu warten, fuhr er fort:

„Ich stehe also beispielsweise hier am Bahnsteig, denke so vor mich hin, denke beispielsweise an mein Leben, an das, was ich zuletzt erlebt habe, und im Augenblick da der Zug einfährt, mache ich einen Schritt nach vorne ...“

„Ganz einfach so, ohne Grund?“, fragte ich.

„Ja!“

„Und das, woran sie gedacht haben, ist nicht Grund genug?“

„Nö, hat mit der Sache nichts zu tun ...“

„Glaube ich Ihnen nicht“, versuchte ich zu widersprechen, blickte auf die Anzeige und dann auf meine Uhr und hoffte, dass die 6 Minuten bis zum geplanten Ankommen des Zuges rasch vergehen mochten. Mein Gegenüber lächelte erneut, er lächelte milde, so als ob er es mit einem Unverständigen zu tun hatte, dem das Leben fremd war. Dann veränderte sich etwas in seinem Ausdruck. Zuerst blickten seine Augen, obwohl er sie zu Boden gerichtet hatte, in eine Ferne, die nicht von dieser Welt war, wie mir schien. Einen Moment später hob er seinen Kopf und plötzlich lag da ein Ausdruck großer Entschlossenheit in seinem Angesicht. Mich überkam mit einem Male die Furcht, er könnte diesen Schritt, von dem er gerade vorhin gesprochen hatte, in fünf Minuten tun, hier vor meinen Augen. Ich suchte meine nächsten Worte.

„Meinen Sie ganz ohne Abschiedsbrief?“

„Ja, denn wem sollte ich denn schreiben?“

„Das heißt, Sie sind alleinstehend?“

„Nein!“

„Aber alleine ...“

„Ja … gewissermaßen ... alleine gelassen … jedenfalls“

Ich blickte erneut auf Anzeige und Uhr, noch vier Minuten.

„Haben Sie es eilig?“, fragte er plötzlich.

„Ja, denn mich erwarten Menschen, die ich unterrichten werde.“

„Unterrichten, was für ein schäbiges Wort, unter … richten, haben Sie schon einmal darüber nachgedacht?“

„Nein“, antwortete ich wahrheitsgemäß.

„Na, dann tun Sie es endlich, so lange Sie noch Zeit dazu haben!“ Es schien so, als hätte er für einen kurzen Augenblick die Fassung verloren. Ich fühlte mich angegriffen, spürte den Impuls, ihn sitzen zu lassen und mich ans andere Ende des Bahnsteiges abzusetzen. Und dann überkam mich mit einem Mal die entsetzliche Angst, dass mich hier einer in seine Sache hineinziehen wollte, mit der ich absolut nichts zu tun hatte. Ich verlor den Überblick, ich verfiel in ein Starre, die mich daran hinderte, mein Vorhaben umzusetzen.

Noch drei Minuten.

Er schwieg. Und in mir klangen seine letzten Worte nach. Sie wirkten wie sein Testament, sein Vermächtnis an mich und an die Welt. Ich versuchte, ihm gerecht zu werden. Ich dachte also nach.

Unterrichten. Unter-richten. Richten, also Richter sein, Richter über ein Leben. Können und Nicht-Können. Sehr Gut oder Nicht Genügend. Oder doch eher: Es richten? Es richtig machen? Und das „Unter“? Nach unten, unten drunter, drunter und drüber … Ein verwirrender Gedankenstrom setzte ein, der mich nach unten zog. Wie lautete die Lösung? Gab es die überhaupt? Nach unten richten … Wurden wir nicht alle nach unten gerichtet, als wir unterrichtet wurden? Wurden nicht unsere hochfliegenden Pläne ein für allemal zerstört durch jene Unterrichtenden, als wir noch Pläne hatten, Visionen … Illusionen?

Ich blickte meinen Reisegefährten fragend an. Er lächelte.

„Sehen Sie“, sagte er, „das Leben ist uns schon früh verdorben worden und das Lebendige bei lebendigem Leib ausgetrieben. Was soll da noch werden aus einem solchen leeren Leben? Wir kämpfen zwar Tag für Tag um einen Sinn, ergreifen einen Beruf, gründen eine Familie, suchen im Außen, was im Innen fehlt, Anerkennung, Sinn, ...“. Er stockte kurz, blickte abermals in jene Ferne ehe er fortfuhr. „Das einzige, was wirklich wahr ist, ist der Tod. Der ist der Sinn des Lebens.“

Ich blickte auf meine Uhr, nicht einmal mehr zwei Minuten. Was sollte ich tun? Eine Panik befiel mich, ich wollte aufspringen, doch fühlte ich mich für diesen Mann an meiner Seite plötzlich sehr verantwortlich. Ich suchte erneut nach Worten und diesmal auch nach Lösungen für diese vertrackte Situation, in die ich da geraten war. Oder hatte ich mich nicht vielleicht sogar in sie begeben?

Während jener wieder abwärts in seine Ferne blickte, schaute ich zurück in alle meine Jahre hier auf Erden und in nur wenigen Augenblicken tauchte Vieles wieder auf, so Vieles, dass es in diesem Moment schwer zu tragen war, schwer zu ertragen. Hinter all den Fluchten lag ein Sehnen, ein Sehnen, das hinter den Fluchten etwas verborgen war, das ich zeitlebens bislang nicht erkennen hatte können. Ich glaubte, es auch diesmal nicht zu finden. Oder war es vielleicht doch der Tod, von dem mein Kamerad gerade noch gesprochen hatte?

Der Mann an meiner Seite seufzte tief. Er unterbrach sein Schweigen der letzten Minute. „Das einzige, was von mir bleibt, das ist mein letzter Wille, ich habe ihn heute Morgen auf meinem Schreibtisch deponiert, in einem grünen Kuvert … grün wie die Hoffnung.“ Mich schauderte, wurde doch in diesem Moment mein Zug angekündigt, sein Zug. Der letzte Zug.

Ich machte einen letzten Versuch.

„Wer soll den finden, wenn sie doch alleine sind?“

„Allein gelassen, nicht alleine ...“, korrigierte er mich um dann ein „Wer, wenn nicht Sie!“ hinzuzufügen. Er drückte mir eine Visitenkarte in meine Hand, die er womöglich zeit unsere Gesprächs bereits in seinen Händen gehalten hatte.

„Mein letzter Wille“, sagte er, schaute mir fest in die Augen und fügte dann noch hinzu: „Werden Sie ihm um Himmels Willen gerecht.“

Und dann ging er. Und ich mit ihm.

An diesem Tag warteten meine SchülerInnen vergeblich.

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    Hinweis

    Meine Meinung zu aktuellen Themen habe ich bis 1.9.2015 im Blog "Mein Senf zu allem" veröffentlicht. Vom 1.9.2015 bis 15.8.2019 habe ich Aktuelles in meinem Tagebuch veröffentlicht.
    Das Logbuch ist die Weiterentwicklung meines Schreibens vom Äußeren zum Inneren und umgekehrt, es ist Ausdruck einer zeitlosen Aktualität, aber auch einer ewig aktuellen Zeitlosigkeit .

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